Ziel dieser Gliederung ist es, den Bestand H 13 im Sinne moderner Forschungsperspektiven neu zu strukturieren und damit interdisziplinäre Zugänge zu ermöglichen. Die thematische Ordnung folgt weniger den archivischen Provenienzstrukturen als vielmehr den methodischen Anforderungen historischer, rechts- und sozialwissenschaftlicher Forschung. Das Gutsarchiv Angern (Bestand H 13) stellt eine der reichhaltigsten archivalischen Überlieferungen zur frühneuzeitlichen Gutsverfassung im mitteldeutschen Raum dar. Es dokumentiert über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten hinweg nicht nur die Besitz- und Herrschaftsverhältnisse der Familie von der Schulenburg, sondern auch die rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Funktionsmechanismen einer vielschichtigen Gutsherrschaft. Seine Bedeutung liegt nicht allein im Umfang der überlieferten Akten, sondern in der strukturellen Vielfalt und thematischen Tiefe, mit der es Einblick in zentrale Prozesse der frühneuzeitlichen Gesellschaft gewährt.
1. Herrschaft und Rechtssicherung
Ein dominierendes Thema des Bestandes ist die Ausübung und Sicherung lokaler Herrschaft. Die Patrimonialgerichtsbarkeit ist ebenso dokumentiert wie Konflikte mit benachbarten Gemeinden, Amtsführung, Polizei- und Steuerhoheit. Rechtsquellen zu Lehen, Allodialbesitz, Fideikommissbildung und Gemeinheitsteilung zeigen, wie feudale und frühstaatliche Ordnungsmuster ineinandergriffen. Die schriftlich fixierte Rechtspraxis ist nicht nur Ausdruck institutioneller Konsolidierung, sondern zugleich Herrschaftstechnik.
2. Wirtschaftsführung und Agrarstruktur
Zahlreiche Serien von Inventaren, Rechnungsbüchern, Extrakten, Ablöseverträgen und Pachtverzeichnissen erlauben es, die Transformation von der naturalwirtschaftlich geprägten Fronhofwirtschaft zur rationalisierten Rentengutswirtschaft nachzuvollziehen. Die Ablösung von Diensten in Geld, die Regulierung von Personalverhältnissen, die Rentabilitätsplanung und die Betriebsführung sind anhand der überlieferten Verwaltungsdokumente minutiös rekonstruierbar. Das Archiv bildet damit eine zentrale Quelle für agrarhistorische und wirtschaftsgeschichtliche Forschungen.
3. Soziale Ordnung und Disziplinierung
Die Bestände enthalten zahlreiche Dokumente zum sozialen Gefüge des Gutes: Armenwesen, Hebammenaufsicht, Disziplinarverfahren gegen Untertanen, Fürsorge für Kranke, Schulwesen und moralische Überwachung. Diese Akten geben Aufschluss über gutsherrliche Sozialpolitik ebenso wie über Konflikte und Aushandlungsprozesse zwischen Herrschaft und Bevölkerung. Die frühneuzeitliche Gesellschaft erscheint dabei als strukturiert durch Pflichtverhältnisse, Disziplinierungsstrategien und paternalistische Fürsorgelogik.
4. Raumordnung, Infrastruktur und materielle Kultur
Das Archiv dokumentiert nicht nur Bauprojekte – etwa den Schlossumbau, die Anlage von Wirtschaftsgebäuden, Wege- und Gartenplanung –, sondern auch die räumliche Organisation von Herrschaft. Der Gutshof, die Ökonomieflächen, das Wegenetz und die Gartenanlagen folgen einem erkennbaren Ordnungsmuster, das sich in Bauverträgen, Skizzen, Materialabrechnungen und Berichten niederschlägt. Architektur, Landschaft und Infrastruktur erscheinen als bewusst geformte Medien der Macht, des Prestiges und der funktionalen Rationalität.
5. Familie, Genealogie und Traditionsbildung
Die genealogische Überlieferung, Nachlassregelungen, Testamente, Korrespondenzen und Stiftungsakten bieten einen Zugang zur familialen Selbstverortung des Adels. Das Archiv dokumentiert Strategien der genealogischen Sicherung, Repräsentation und dynastischen Kontinuität. Familie wird hier als rechtlich regulierter, sozialer und symbolischer Verband sichtbar, dessen Gedächtnis durch Akten, Wappen, Stiftungen und Rituale konserviert wird.
6. Transregionale Bezüge und Mobilität
Reiseunterlagen, Besitzdokumente außerhalb Angerns, diplomatische und militärische Korrespondenz zeigen, dass Gutsherrschaft im 18. Jahrhundert nicht ortsgebunden war. Mobilität, Fernverwaltung und Netzwerke gehörten zum Alltag adliger Herrschaftspraxis. Das Archiv dokumentiert, wie Güter überregional organisiert, Beamte instruiert und familiäre Strategien über politische Räume hinweg entfaltet wurden.
1. Herrschaft und Governance
- Entwicklung der Patrimonialgerichtsbarkeit (z. B. H 13, Nr. 114–121)
- Amtsstruktur und Lokalverwaltung (H 13, Nr. 115, 118–119)
- Polizei-, Steuer- und Militärpflichten (H 13, Nr. 240–242, 279–280)
- Verwaltung von Untertanen und Dorfgemeinschaften (H 13, Nr. 275–283)
- Konflikte und Auseinandersetzungen mit Gemeinden (H 13, Nr. 36, 38–39, 275–281)
Forschungszugänge: Mikrogeschichte der Herrschaft, Rural Governance, Konfliktkultur, politische Anthropologie
2. Recht und Eigentum
- Lehn- und Allodialrechte (H 13, Nr. 1, 3–5, 7, 9–14)
- Fideikommiss, Sukzession und Nachlassregelungen (H 13, Nr. 458, 464–468)
- Verträge und Besitzübertragungen (H 13, Nr. 25–26, 47–48)
- Gerichtsurteile, Protokolle, rechtliche Auseinandersetzungen (H 13, Nr. 125–126, 281–284)
- Gemeinheitsteilungen, Triftrechte und Ablösungen (H 13, Nr. 266, 314–316)
Forschungszugänge: Rechtsgeschichte, Transformation des Feudalwesens, Grundbesitz- und Agrarverfassungen
3. Wirtschaft und Gutshaushalt
- Gutswirtschaftliche Verwaltung: Rechnungen, Extrakte, Inventare (H 13, Nr. 73–76, 347–356)
- Landwirtschaft, Brauwesen, Mühlen, Fischerei, Jagd (H 13, Nr. 391–394, 400–407)
- Forstwirtschaft, Schäfereien, Melioration (H 13, Nr. 397–399)
- Personal- und Gesindewesen (H 13, Nr. 351–353)
- Marktintegration und Monetarisierung (H 13, Nr. 266, 360–390)
Forschungszugänge: Agrargeschichte, Kameralistik, Wirtschafts- und Sozialgeschichte
4. Soziale Ordnung und Lebenswelten
- Gesundheit, Hebammenwesen, Seuchenbekämpfung (H 13, Nr. 164–167, 393–394)
- Armenfürsorge, Einlieger, soziale Randgruppen (H 13, Nr. 281, 317)
- Ehe- und Familienverhältnisse (H 13, Nr. 261–263, 465–468)
- Schul- und Kirchenwesen (H 13, Nr. 180–182)
- Moral- und Disziplinarpraktiken (H 13, Nr. 275–277)
Forschungszugänge: Sozialgeschichte, Geschlechterforschung, Körper- und Medizingeschichte, Mikrosoziologie
5. Infrastruktur, Raum und Bauen
- Schlossbau, Wirtschaftsgebäude, Wege, Brücken (H 13, Nr. 409–413)
- Landschaftsveränderung, Gartenanlagen (H 13, Nr. 354–356)
- Karten, Pläne, Grenzregelungen (H 13, Nr. 316, 322–323)
- Bauverträge und Kostenrechnungen (H 13, Nr. 410–412)
Forschungszugänge: Raumgeschichte, Architektur- und Umweltgeschichte, Technikgeschichte
6. Adel, Familie und Gedächtnis
- Genealogie, Stammbäume, Nachlässe (H 13, Nr. 458, 464–468, 526–530)
- Korrespondenzen bedeutender Familienmitglieder (H 13, Nr. 338–339, 466)
- Familienstiftungen und Legate (H 13, Nr. 467–468)
- Orden, Titel, Standespflege (H 13, Nr. 529–530)
Forschungszugänge: Adelsforschung, Erinnerungskultur, Eliten- und Netzwerkgeschichte
7. Transregionale Kontexte und Mobilität
- Militärdienste in fremden Armeen (z. B. Sardinien) (H 13, Nr. 338–339)
- Reisen, Pässe, Auslandsaufenthalte (H 13, Nr. 340–344)
- Besitz außerhalb Angerns (Lieberose, Krüssau, Burgscheidungen etc.) (H 13, Nr. 429–443)
Forschungszugänge: Transnationale Geschichte, Mobilitätsforschung, Militär- und Diplomatiegeschichte
Empfohlene digitale Ergänzungen
- Themenspezifische Schlagwortvergabe
- Personen- und Ortsnetzwerke (Graph-Datenbanken)
- Kartenbasierte Visualisierung von Besitz und Verwaltungsgrenzen
- Verknüpfung mit externen Metadatenbanken (z. B. Kirchenbücher, Gerichtsakten, Militärlisten)
Editionsempfehlungen
- Generalinventar des Schlosses Angern (1752) (H 13, Nr. 76)
- Gerichtsbücher und Strafprotokolle (H 13, Nr. 125–126)
- Korrespondenz Christoph Daniel von der Schulenburg (H 13, Nr. 338–339, 464–466)
Fazit
Das Gutsarchiv Angern ist kein bloßes Verwaltungsarchiv, sondern ein Spiegel frühneuzeitlicher Herrschaftskultur. Es ermöglicht die Rekonstruktion von Verwaltungsprozessen, rechtlichen Strukturen, sozialer Disziplinierung, wirtschaftlicher Rationalisierung und symbolischer Repräsentation. In seiner thematischen Breite und Quellendichte ist es ein zentraler Baustein zur Erforschung der Gutsverfassung im Alten Reich – mit Anschlussmöglichkeiten an Fragestellungen der Rechtsgeschichte, Agrarökonomie, Sozialdisziplinierung, Raumordnung, Familienstrategien und Kommunikationsgeschichte.