Das Gutsarchiv Angern offenbart mit seiner Überlieferung zur lokalen Herrschaftsausübung einen vielschichtigen Einblick in die politischen, rechtlichen und administrativen Ordnungsmechanismen des 18. Jahrhunderts. Im Zentrum steht Christoph Daniel von der Schulenburg (1679–1763), dessen Wirken exemplarisch für die spätfeudale Gutsherrschaft steht – eine Herrschaftsform, die im Spannungsfeld von Standesprivileg, obrigkeitlicher Verantwortung und sozialer Kontrolle agierte. Seine schriftlich abgesicherte, strategisch kalkulierte Regierungsweise zielte nicht nur auf Ordnung und Effizienz, sondern auch auf die nachhaltige Durchsetzung gutsherrlicher Machtstrukturen.
Ein zentrales Herrschaftsinstrument war die Patrimonialgerichtsbarkeit. Diese erlaubte es dem Grundherrn, die niedere und teilweise auch die höhere Gerichtsbarkeit über die Einwohner seines Territoriums auszuüben. Christoph Daniel bediente sich dieser Kompetenz nicht nur in der Theorie, sondern machte sie zum tragenden Pfeiler seiner lokalen Ordnung. Die Akten H 13, Nr. 114–121 dokumentieren eindrücklich, wie konsequent und systematisch er diese Gerichtshoheit nutzte: Er setzte eigene Gerichtshalter ein, überwachte die Einhaltung von Ordnungen, ließ Protokolle führen und griff aktiv in Rechtsfindungsprozesse ein. Die Gerichtsbarkeit war damit nicht nur ein Mittel zur Konfliktregelung, sondern ein bewusst eingesetztes Instrument zur Machtdemonstration und sozialen Disziplinierung.
In besonderem Maße spiegeln die zahlreichen Konflikte mit den Gemeinden, vor allem mit Angern, das Spannungsfeld zwischen gutsherrlichem Anspruch und dörflicher Selbstbehauptung. So zeigen die Akten H 13, Nr. 275–283 eine Vielzahl von Auseinandersetzungen über Wege- und Weiderechte, Dienstpflichten, Ablösungen, Triftrechte oder Steuerbelastungen. Schulenburgs Reaktion war selten kompromissbereit – er verklagte oft die gesamte Gemeinde oder einzelne Bauern, um sein Recht vor dem eigenen patrimonialen Gericht durchzusetzen. Diese Praxis unterstreicht sein autoritäres Herrschaftsverständnis, das wenig Raum für Konsens ließ und stattdessen auf Kontrolle durch juristische Formalisierung setzte.
Die Gemeindeversammlungen, die in anderen Regionen durchaus als Akteure kollektiver Interessenvertretung galten, hatten Schulenburg nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Die Überlieferung deutet darauf hin, dass er jede Form von Widerstand – etwa die Verweigerung von Baudiensten oder Naturalabgaben – als Angriff auf die Ordnung begriff und systematisch unterband. Die Dorfbewohner wurden so nicht als Partner in einem lokalen Gemeinwesen, sondern als Objekte obrigkeitlicher Führung behandelt.
Ein weiterer Aspekt gutsherrlicher Governance war die Verwaltung durch Amtsdiener und Beamte, etwa durch den Oberamtmann Croon (vgl. H 13, Nr. 115, 118–119). Croon war dabei nicht nur Verwaltungsorgan, sondern ein verlängerter Arm der gutsherrlichen Intention. Die Beschwerden der Gemeinde Angern gegen ihn (vgl. H 13, Nr. 275) deuten auf eine harte, möglicherweise willkürliche Amtsführung hin, die ganz im Sinne seines Dienstherrn lag. Croon überwachte Frondienste, organisierte Steuerabgaben und trat als Vertreter vor Gericht auf – und war damit sowohl Symbol als auch Werkzeug der herrschaftlichen Durchdringung der Dorfgemeinschaft. Diese Akten belegen, dass Christoph Daniel nicht nur Herr über rechtliche Entscheidungen war, sondern auch über die administrative Infrastruktur, mit der seine Herrschaft im Alltag durchgesetzt wurde. Der Amtmann war Ansprechpartner für Pachtverhältnisse, Rekrutierungen, Steuern, Geburten, Todesfälle und Disziplinarverfahren – und dabei direkt dem Gutsherrn verantwortlich. Verwaltung war nicht neutral oder staatlich, sondern unmittelbarer Ausdruck personaler Macht.
In die gleiche Richtung weisen die Polizei-, Steuer- und Militärpflichten (H 13, Nr. 240–242), die unter Schulenburgs Regie streng organisiert waren. Die obrigkeitliche Sorge galt dabei nicht dem abstrakten Gemeinwohl, sondern der Absicherung der eigenen wirtschaftlichen und sozialen Ordnung: So diente die Kontrolle über Steuerabgaben, die Verpflichtung zum Dienst in preußischen Regimentern oder die Überwachung von Arbeitskräften in erster Linie der Aufrechterhaltung des Status quo.
Bemerkenswert ist, wie sehr Christoph Daniel die Schriftlichkeit zur Basis seiner Herrschaft machte. Die Vielzahl an Protokollen, Quittungen, Ordnungen, Rechnungsbelegen und juristischen Schriftsätzen zeigt ein Herrschaftsmodell, das auf Dokumentation, Systematisierung und juristischer Absicherung basierte. In der schriftlichen Fixierung von Diensten, Abgaben und Rechten liegt nicht nur ein Ausdruck frühmoderner Verwaltungslogik, sondern auch ein Instrument zur Behauptung adliger Autorität in einer sich wandelnden Gesellschaft.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Kapitel 1 des Gutsarchivs Angern vermittelt ein klares Bild einer autoritär, aber strukturiert agierenden Gutsherrschaft. Christoph Daniel von der Schulenburg nutzte Patrimonialgericht, Amtsträger und die Macht des geschlossenen Archivs, um seine Stellung in einer sich differenzierenden sozialen Landschaft zu behaupten. Dabei war seine Governance nicht bloß konservativ, sondern durchaus zukunftsweisend im Sinne einer schriftlich regulierten, juristisch begründeten lokalen Ordnungsmacht – ein Modell, das den Übergang vom Feudalismus in die Verwaltungsmoderne markiert.