Kapitel 4 des Gutsarchivs Angern eröffnet einen dichten Quellenraum zu den sozialen Verhältnissen und Alltagserfahrungen im Umfeld der Gutsherrschaft unter Christoph Daniel von der Schulenburg. Es geht um mehr als um Verwaltung: Im Mittelpunkt stehen jene historischen Lebenswelten, die zwischen Herrschaft, Fürsorge, Disziplin und Gemeinschaft eingebettet waren. Die Akten bieten einen Blick auf das soziale Gefüge einer ländlichen Welt im Übergang vom traditionellen Feudalmodell zur verwalteten und zunehmend durchregulierten Agrargesellschaft.
Ein zentrales Thema ist das Verhältnis zwischen Gutsherr und Untertanen im Alltag. Die Bestände H 13, Nr. 275–283 und 317 zeigen, dass es immer wieder zu Konflikten über Dienste, Frondienstverweigerung, Weiderechte und Gemeinschaftsverpflichtungen kam. Dabei wird deutlich, dass Christoph Daniel seine Untertanen nicht nur als ökonomische Ressource verstand, sondern als ein zu steuerndes soziales Kollektiv. Widerstand wurde nicht als legitimer Ausdruck von Interessen wahrgenommen, sondern als Störung einer Ordnung, die durch Pflichten, Regeln und Sanktionen stabil gehalten wurde. Dies zeigt sich etwa in Strafakten gegen Bauern, die das Holzrecht überschritten oder sich gegen Weidegrenzen widersetzten. Der Gutsherr griff über seine patrimoniale Gerichtsbarkeit hart durch, wobei er nicht nur juristisch, sondern auch pädagogisch agierte – mit dem Ziel, soziale Ordnung herzustellen und tradierte Machtverhältnisse zu erhalten.
Die Disziplinierung des Sozialverhaltens war ein zentrales Element dieser Ordnungsstrategie. In den Akten (z. B. H 13, Nr. 275–277) finden sich Anweisungen zur Einhaltung von Gottesdienstbesuchen, zur Unterbindung von Wirtshausbesuchen außerhalb der erlaubten Zeiten, zum Alkoholverbot während der Arbeit und zur Einhaltung des Sexualmoral-Kodex. Uneheliche Schwangerschaften, Ehebruch oder „unsittliche Gesellschaft“ wurden mit empfindlichen Bußgeldern, öffentlicher Bloßstellung oder Entlassung aus dem Gesinde geahndet. Der Gutsherr sah sich dabei nicht nur als Verwalter, sondern als moralischer Ordnungsstifter, der aktiv in die Lebensführung seiner Untertanen eingriff – ein Verständnis, das sich aus dem patriarchalen Weltbild des 18. Jahrhunderts speiste.
Gleichzeitig zeigen die Quellen auch Aspekte gutsherrlicher Fürsorgepflicht, wie sie sich etwa im Umgang mit Armen, Kranken, Invaliden und Witwen manifestierte (vgl. H 13, Nr. 281, 317). Diese Menschen wurden nicht einfach sich selbst überlassen, sondern erhielten Unterstützungsleistungen in Form von Naturalien, Unterkunft oder Befreiung von bestimmten Diensten. Es gab festgelegte Formen der Armenpflege, die meist in Verbindung mit der Kirche organisiert wurden, aber unter gutsherrlicher Kontrolle standen. Christoph Daniel agierte auch hier nicht als reiner Almosengeber, sondern als sozialer Lenker, der Armenpflege mit Gehorsam, Demut und Ordnungspflicht verknüpfte. In diesem Sinne war Fürsorge nicht Ausdruck moderner Wohlfahrt, sondern ein Instrument sozialer Stabilität und Machterhalt.
Ein besonders aufschlussreiches Feld ist das Gesundheitswesen, das im Bestand H 13, Nr. 164–167 detailliert dokumentiert ist. So regelte Christoph Daniel die Einstellung und Überwachung von Hebammen, die nicht nur medizinische, sondern auch soziale Kontrollfunktionen übernahmen – etwa bei der Dokumentation unehelicher Geburten oder bei Anzeigen gegen Väter. Hebammen mussten vereidigt, von der Gemeinde akzeptiert und vom Gutsherrn bestätigt werden. Diese Praxis verband medizinische Infrastruktur mit einem umfassenden System der Verhaltensüberwachung. Im Falle von Tierseuchen – wie der Hornviehseuche von 1746 – wurden Quarantänen angeordnet, Tierbestände geschlachtet und der Zugang zu Märkten geregelt. Die Akten zeigen einen erstaunlich modernen Umgang mit Seuchenmanagement – durch Anordnungen, Zirkularien, Transportverbote und Entschädigungsregelungen. Der Gutsherr trat dabei als kombinierter Epidemiologe, Ökonom und Strafrichter auf.
Auch der Umgang mit psychischen Krankheiten und sozialer Devianz ist dokumentiert – z. B. im Fall Caspar Erhardt (H 13, Nr. 167), für den Betreuung und Unterbringung geregelt wurden. In diesem Zusammenhang ist erkennbar, dass es keine klare Trennung zwischen Fürsorge und Isolation gab. „Geistesverwirrte“ galten als Gefährdung für das Dorfgefüge und wurden entweder in Familien untergebracht oder unter Aufsicht gestellt. Gleichzeitig spricht aus den Regelungen ein Maß an Schutzpflicht – ein paternalistisches Modell der Inklusion, das Exklusion mit Grundversorgung kombinierte.
Neben diesen disziplinierenden und fürsorglichen Maßnahmen spielte auch das Verhältnis von Kirche, Schule und Alltag eine bedeutende Rolle in der sozialen Ordnung. Die Akten H 13, Nr. 180–182 dokumentieren die enge Verbindung zwischen Gutsherrschaft und religiöser Institution: Christoph Daniel hatte Einfluss auf die Besetzung der Pfarrstellen, überwachte die Disziplin der Lehrer und regelte die Finanzierung und Instandhaltung von Schul- und Sakralgebäuden. Die Schule war nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern auch der Sozialisierung in Gehorsam, Gottesfurcht und Untertanentreue. Lehrer wurden als moralische Instanzen angesehen und von der Gutsherrschaft als solche gesteuert.
Kapitel 4 des Gutsarchivs Angern zeigt damit eindrucksvoll, dass soziale Ordnung im 18. Jahrhundert kein Naturzustand, sondern Ergebnis von Aushandlungsprozessen, Machtausübung und normativer Erwartung war. Christoph Daniel erscheint als „Patriarch der Ordnung“: autoritär in der Durchsetzung, fürsorglich im Interesse an Stabilität, normativ in der Gestaltung von Lebensverhältnissen. Die Lebenswelten seiner Untertanen waren durchzogen von Kontrolle – aber auch von einer Fürsorgelogik, die das Überleben in Abhängigkeit garantierte. Das Archiv macht so den Alltag der frühen Neuzeit greifbar: als soziale Landschaft zwischen Bindung, Belastung und Bevormundung.