Die Struktur des Gutsarchivs Angern dokumentiert in bemerkenswerter Dichte die juristischen und eigentumsrechtlichen Grundlagen adeliger Herrschaft im 18. Jahrhundert. Kapitel 2 umfasst zentrale Quellen zu Lehnrechten, Besitzverhältnissen, Erbfolgen und Fideikommissbildung und ermöglicht damit einen tiefen Einblick in das rechtlich fundierte Machtverständnis Christoph Daniel von der Schulenburgs. Sein Bestreben, die zersplitterten Familiengüter zusammenzuführen und dauerhaft zu sichern, ist ein Paradebeispiel für die adlige Besitzpolitik im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus.
Der rechtliche Zugriff auf Land und Menschen vollzog sich dabei in mehreren Etappen. Zunächst dokumentieren die Akten H 13, Nr. 1, 3–5, 7 und 9–14 die lange Lehnsgeschichte Angerns als Magdeburger Erzbischofslehen, das im 15. Jahrhundert an die Familie von der Schulenburg kam. Diese frühe Form der Belehnung ermöglichte es der Familie zwar, über Generationen hinweg Grundherrschaft auszuüben, bedeutete aber auch Bindung an die Lehnsherren, Unsicherheit bei der Erbfolge und das Risiko des Heimfalls an das Erzstift. Christoph Daniel erkannte die strukturellen Schwächen dieser Konstruktion und setzte konsequent auf eine Allodifizierung, also die Umwandlung des Lehnseigentums in freies, erbliches Privateigentum.
Ein besonders prägnanter Schritt war der systematische Erwerb aller Anteile an Angern und Angern-Vergunst in den Jahren 1734 bis 1738 (vgl. H 13, Nr. 25–26). Diese Güter waren über Jahrhunderte hinweg unter verschiedenen Linien der Familie aufgeteilt gewesen. Christoph Daniel handelte dabei nicht aus bloßem Besitzinteresse, sondern verfolgte eine strategisch motivierte Konsolidierung. Er kaufte die Anteile seiner Vettern unter notarieller Absicherung auf, vereinbarte Übergaben und Rücktritte und ließ sich die Besitzrechte in Verträgen detailliert bestätigen. Auf diese Weise schuf er die Grundlage für eine vereinheitlichte, zentral gesteuerte Gutsverwaltung.
Doch damit nicht genug: Um diesen neu geschaffenen Großbesitz dauerhaft vor Zersplitterung zu bewahren, ließ Christoph Daniel 1762 ein Fideikommiss errichten (H 13, Nr. 458). Diese Rechtsform – eine aus dem römischen Recht abgeleitete, in Preußen etablierte Institution – verhinderte jede künftige Teilung oder Veräußerung des Gutes. Das gesamte Vermögen sollte geschlossen in der Familie erhalten bleiben, gebunden an eine festgelegte Erbfolge. Diese Maßnahme war Ausdruck eines neuen adligen Selbstverständnisses: Herrschaft sollte nicht nur ausgeübt, sondern juristisch gesichert, kontrolliert vererbt und historisch gestiftet werden. Der Besitz wurde so nicht nur ökonomisches Kapital, sondern auch Gedächtnisort, Identitätskern und dynastisches Fundament.
Die Bedeutung dieser Stiftung zeigt sich besonders in den Testaments- und Erbstreitakten (H 13, Nr. 464–468), die nach dem Tod Christoph Daniels 1763 einsetzten. Hier entzündete sich unter anderem zwischen seinem Sohn Alexander Friedrich Christoph und anderen Familienzweigen ein Konflikt über die rechtmäßige Auslegung des Fideikommisses. Die Dokumente belegen, wie komplex die Verbindung von Familienrecht, Besitzverfügung und moralischem Anspruch war – und wie sehr sich die Vorstellung eines „gerechten Erbes“ von der juristisch fixierten Rangfolge unterschied.
Nicht nur die großen politischen Fragen wurden rechtlich geregelt – auch der Alltag war von einer tiefgreifenden Verrechtlichung der Eigentumsverhältnisse geprägt. So zeigen zahlreiche Verträge über Trift- und Wegerechte (H 13, Nr. 314–316), wie genau die Nutzung von Allmende, Feldern und Pfaden festgelegt wurde. Christoph Daniel strebte danach, jede Art von unklarer, historisch gewachsener Nutzung in ein festes, schriftlich gesichertes Verhältnis zu überführen. Dies war nicht nur ökonomisch motiviert, sondern auch Ausdruck eines Herrschaftsverständnisses, das Kontrolle durch Klarheit gewinnen wollte.
Einen ähnlichen Zweck verfolgte die Ablösung der Frondienste in Geldleistungen (z. B. H 13, Nr. 266). Die vormals üblichen Spanndienste, also Arbeitsverpflichtungen der Bauern, wurden zunehmend durch Geldzahlungen ersetzt. Diese Praxis erleichterte nicht nur die Verwaltung, sondern machte die Einnahmen planbar und minderte die Konfliktgefahr bei Dienstverweigerung. Doch die neue Geldform bedeutete keineswegs Freiheit: Die Verpflichtungen blieben bestehen – nur die Form wandelte sich. Dies verweist auf einen strukturellen Wandel innerhalb der Feudalordnung, nicht auf deren Auflösung.
Insgesamt zeigt Kapitel 2 des Gutsarchivs, wie eng in der frühneuzeitlichen Adelswelt Recht und Macht, Eigentum und Herrschaft miteinander verknüpft waren. Christoph Daniel von der Schulenburg begegnete der sozialen und politischen Komplexität seiner Zeit nicht mit Willkür, sondern mit einer durchdachten, schriftlich fixierten Besitzstrategie. In seiner Person verbindet sich feudale Autorität mit rationalem Gestaltungswillen – ein Modell adliger Modernität, das den Übergang vom ständischen zum administrativen Besitzregime markiert.