Das Vestibül des Herrenhauses Angern bildet als architektonisches Bindeglied zwischen Außenwelt und Innenraum eine zentrale Schwelle der barocken Raumdramaturgie. Es diente im 18. und 19. Jahrhundert nicht allein dem funktionalen Empfang von Gästen, sondern erfüllte eine wichtige Rolle in der Inszenierung sozialer Ordnung und Repräsentation. Seine architektonische Gestaltung, seine Position im Baukörper sowie seine Ausstattung erlauben Rückschlüsse auf die Bedeutung dieses Übergangsraums im Kontext adliger Wohn- und Herrschaftskultur.
In der barocken Architektur um 1745 stellt das Vestibül traditionell den Auftakt zur bel étage dar – einen Raum, der Durchgang, Erwartung und erste visuelle Eindrücke zugleich vereint. In Angern befand sich das Vestibül im zentralen Hauptflügel und leitete von der Hofseite aus den Zugang zu den darüberliegenden Repräsentationsräumen ein. Bereits seine symmetrische Anlage, die klare Achsenführung sowie die wohlproportionierte Deckenhöhe vermittelten den Anspruch auf Ordnung, Maß und Hierarchie – zentrale Werte barocker Gestaltungsideale.
Das Inventarverzeichnis von 1739 erwähnt für diesen Bereich eine Laterne mit acht Glascheiben sowie eine Pendule mit reichem Gehäuse. Diese Elemente belegen die Verbindung von Funktionalität (Beleuchtung, Zeitmessung) und symbolischer Repräsentation. Der Hinweis auf ein Tableau mit einem Mohr oder Tambour vom Hochlöblichen Schulenburgischen Regiment über der Tür verweist auf die Bedeutung des Vestibüls als Ort militärischer Erinnerungskultur und Repräsentationsformen. Ein besonderes Highlight des Vestibüls sind die reich verzierten, geschnitzten Rechteckbaluster des Treppengeländers, die aus der Bauzeit des Spätbarocks stammen.
Im Zuge der klassizistischen Umgestaltung des Schlosses um 1843 wurde auch das Vestibül überformt. Die ursprünglich barocke Bewegungsdramaturgie wurde zugunsten einer nüchternen, axial gegliederten Raumwirkung reduziert. Der Eingang wurde vermutlich neu gerahmt, Wandflächen hell verputzt und dekorative Elemente zurückgenommen. Dennoch blieb die Funktion als verteilter Raum erhalten: Das Vestibül verband weiterhin die Haupterschließung mit den angrenzenden Fluren, Treppen und Repräsentationsräumen.
Im 19. Jahrhundert wandelte sich die Bedeutung des Vestibüls vom höfisch inszenierten Schwellenraum hin zu einem bürgerlich geprägten Empfangsraum. Garderoben, Konsoltische oder Spiegel ersetzten symbolische Ausstattungen. Das Vestibül diente nun primär der Orientierung und der Funktionstrennung innerhalb des Hauses – als Windfang, als Filter zwischen Innen und Außen, als logistischer Knotenpunkt des Alltags. Im Kontext des Schlosses Angern bleibt das Vestibül dennoch ein Ort mit symbolischer Tiefe. Es markiert nicht nur den räumlichen Übergang, sondern auch den ideellen: von der Öffentlichkeit des Hofes zur Privatheit des Hauses, vom Alltäglichen zum Repräsentativen, vom Praktischen zum Inszenierten. Damit spiegelt es exemplarisch die Transformation adliger Wohnkultur zwischen Barock und bürgerlichem Klassizismus.
Das Vestibül führt zum Gartensaal, zum Dienstzimmer und zur Antichambre des Oberen Saals. Dieser war mit 4,50 m Raumhöhe der repräsentativste Raum des Hauses, war Bühne des eigentlichen Empfangs. Seine Ausstattung mit Supraporten, Landschaftsgemälden, Stillleben und Möbeln der Berliner Arbeit diente nicht allein der Ästhetik, sondern war Teil der kommunikativen Praxis: Die Bildwerke fungierten als Gesprächsanlass, die Möblierung ermöglichte differenzierte soziale Gruppierungen. Besonders auffällig war die Vielzahl an Tierstillleben, Küchenszenen und militärischen Motiven, die auf den Lebensstil und das Selbstverständnis des Schlossherrn als Offizier und Gutsbesitzer verwiesen.