Die Angernsche Dorfordnung im Spiegel der Magdeburgischen Polizeiordnung: Ein Beispiel adliger Herrschaftspraxis im 18. Jahrhundert. Als Ausdruck eines frühabsolutistischen Staatsverständnisses sah sich der Landesherr verpflichtet, das „gemeine Beste“ durch strikte Ordnung und Kontrolle zu sichern[1]. In zahlreichen Adelsdörfern – wie im Fall von Angern – diente die Magdeburgische Polizeiordnung als rechtliche Grundlage oder zumindest als Vorbild für lokale Dorf- und Gerichtsordnungen, die unter dem Namen des jeweiligen Gerichtsherrn konkretisiert wurden.
Christoph Daniel Freiherr von der Schulenburg, General in sardinischen Diensten und Erb- und Gerichtsherr über Angern, Wenddorf und Bülitz, erließ vermutlich um 1740 die sogenannte Angernsche Dorfordnung. Diese ist ein besonders instruktives Beispiel für eine adlige Polizei- und Gerichtsordnung im ländlichen Raum des 18. Jahrhunderts.
Die Magdeburgische Polizeiordnung
Die Magdeburgische Polizeiordnung zählt zu den bedeutendsten landesherrlichen Ordnungswerken des frühneuzeitlichen Kurfürstentums Brandenburg und später Preußens. In mehreren Fassungen seit dem 16. Jahrhundert erlassen, diente sie der umfassenden Regelung des öffentlichen, kirchlichen, wirtschaftlichen und privaten Lebens in Stadt und Land. Ziel war die Etablierung einer moralisch-disziplinierten, wirtschaftlich stabilen und obrigkeitstreuen Gesellschaft durch die detaillierte Normierung sozialer Verhältnisse, Sitten, Marktordnung, Ehe- und Familienstrukturen sowie des Gottesdienstbesuchs.
Christoph Daniel war nicht gesetzlich verpflichtet, eine eigene Dorfordnung zu erlassen. Doch als patrimonialer Gerichtsherr war er nicht nur berechtigt, sondern nach dem Verständnis seiner Zeit sogar gehalten, für umfassende Ordnung und Disziplin in seinem Herrschaftsbereich zu sorgen. Die Ausformulierung der Angernschen Dorfordnung in dieser Detailtiefe war Ausdruck seines autoritativen Selbstverständnisses als ordnender Grundherr im Geiste des aufgeklärten Absolutismus. Wie im Dorf-Articul ausdrücklich erwähnt („nach der gerechten Willensmeinung Sr. Kgl. Maj. in Preußen… in Ihro Magdeburgische Polizey Ordnung…“), orientierte sich Christoph Daniel explizit an der landesherrlichen Norm und überführte diese in eine lokale Rechtsform[2].
Die Angernsche Dorfordnung, bestehend aus über 100 Paragraphen, regelt minutiös das religiöse, soziale, wirtschaftliche und rechtliche Leben der Untertanen in den Dörfern Angern, Wenddorf und Bülitz. Sie greift dabei zentrale Elemente der Magdeburgischen Polizeiordnung auf – etwa zur Kirchgangspflicht, zur Unterbindung von Aberglauben, zur Regelung von Verlobungen und Eheschließungen sowie zur Schulpflicht –, geht jedoch in ihrer Tiefe und konkreten Anwendung deutlich darüber hinaus.
Der Dorf-Articul reglementiert u. a. die Höhe von Hochzeitsausgaben, das Verhalten in Krügen, die Hutrechte, die Unterbringung von Gesinde, die Verpflichtung zur Weg- und Grabenpflege und die Sanktionierung von Schäden an der Saat. Auch werden das Bauwesen im Dorf, die Begrünung vor den Häusern, die Viehhaltung, die Waffenführung sowie Vertrags- und Erbschaftsfragen streng geregelt. Dabei verbinden sich obrigkeitliches Ordnungsdenken und paternalistische Fürsorge: Wer sich ordentlich fügt, darf auf Schutz und Gnade des Herrn hoffen; wer sich widersetzt, muss mit empfindlichen Geld- oder Leibesstrafen, bis hin zum Pranger oder Arrest, rechnen[3].
Die Dorfordnung ist somit nicht nur Ausdruck eines frühabsolutistischen Herrschaftsmodells, sondern auch ein Mittel zur Ökonomisierung des Gutsbetriebs. Sie bezieht sich auf die konkrete Lebensrealität in einem Dorf mit patrimonialer Struktur und wurde zur Stütze eines Systems, das Herrschaft, Arbeitskraft, Moral und Religion in einem engen normativen Rahmen zusammenband. Der Angernsche Fall zeigt dabei beispielhaft, wie landesherrliche Ordnungsvorstellungen in adliger Eigenregie konkret ausgestaltet und auf die Bedürfnisse der Gutswirtschaft übertragen wurden.
Gegenüberstellung
Eine synoptische Gegenüberstellung zwischen dem Dorf-Articul von Angern und der Magdeburgischen Polizeiordnung des 18. Jahrhunderts bietet spannende Einblicke in die Umsetzung landesherrlicher Normen auf lokaler Ebene. Der Dorf-Articul von Angern, vermutlich zwischen 1735 und 1763 verfasst, spiegelt die spezifischen Bedürfnisse und Vorstellungen des lokalen Adels wider, während die Magdeburgische Polizeiordnung als übergeordnete landesherrliche Regelung diente. Diese synoptische Gegenüberstellung verdeutlicht, wie der Dorf-Articul von Angern die allgemeinen Prinzipien der Magdeburgischen Polizeiordnung aufgreift und sie durch spezifische Regelungen und Strafen an die lokalen Bedürfnisse und die Autorität des Grundherrn anpasst.
1. Kirchgang und Gottesdienstordnung
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Magdeburgische Polizeiordnung: Betont die Pflicht zum regelmäßigen Kirchgang und zur Teilnahme an Gottesdiensten.
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Dorf-Articul Angern: Verpflichtet die Dorfbewohner zum sonntäglichen Kirchgang und zur Teilnahme an Gottesdiensten, wobei spezifische Strafen bei Nichtbefolgung festgelegt sind.
Kommentar: Beide Regelwerke unterstreichen die zentrale Rolle der Kirche im Gemeinschaftsleben und die Bedeutung der religiösen Praxis für die soziale Ordnung.
2. Verbot von Aberglauben und Hexerei
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Magdeburgische Polizeiordnung: Verurteilt Aberglauben und Hexerei als gefährliche Praktiken, die unterdrückt werden müssen.
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Dorf-Articul Angern: Untersagt explizit den Glauben an und die Ausübung von abergläubischen Praktiken, mit klaren Strafandrohungen.
Kommentar: Die lokale Umsetzung zeigt eine direkte Übernahme der landesherrlichen Vorgaben, wobei der Dorf-Articul spezifische Strafen und Maßnahmen zur Durchsetzung nennt.
3. Ordnung in Ehe und Familie
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Magdeburgische Polizeiordnung: Regelt Eheschließungen, verbietet Ehebruch und legt die Pflichten innerhalb der Familie fest.
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Dorf-Articul Angern: Stellt detaillierte Vorschriften für Verlobungen, Eheschließungen und das Zusammenleben in der Familie auf, einschließlich der Notwendigkeit der Zustimmung des Grundherrn.
Kommentar: Der Dorf-Articul geht über die allgemeinen Bestimmungen hinaus und integriert die Autorität des lokalen Adels in familiäre Angelegenheiten.
4. Wirtschaftliche Regelungen und Gemeindearbeit
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Magdeburgische Polizeiordnung: Legt allgemeine wirtschaftliche Vorschriften fest, einschließlich der Pflichten der Untertanen gegenüber dem Landesherrn.
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Dorf-Articul Angern: Definiert spezifische wirtschaftliche Pflichten, wie die Instandhaltung von Wegen, Teilnahme an Gemeindearbeiten und Regelungen für den Handel innerhalb des Dorfes.
Kommentar: Die lokalen Bestimmungen konkretisieren die allgemeinen landesherrlichen Vorgaben und passen sie an die spezifischen Bedürfnisse der Dorfgemeinschaft an.
5. Soziale Kontrolle und Disziplin
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Magdeburgische Polizeiordnung: Betont die Bedeutung von Ordnung und Disziplin innerhalb der Gemeinschaft, mit allgemeinen Strafandrohungen bei Verstößen.
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Dorf-Articul Angern: Führt spezifische Strafen für verschiedene Vergehen auf, wie z.B. das Fernbleiben vom Gottesdienst, Ungehorsam gegenüber dem Grundherrn oder das Verbreiten von Gerüchten.
Kommentar: Der Dorf-Articul zeigt eine detaillierte Umsetzung der landesherrlichen Prinzipien, wobei die Strafen und Maßnahmen an die lokalen Gegebenheiten angepasst sind.
Patrimonialgericht in Angern
Ein zentrales Instrument zur Durchsetzung der Angernschen Dorfordnung war das Patrimonialgericht mit der Gerichtsstube im Ostflügel des Schloss Angern. Im Inventar von 1752 als funktional ausgestatteter Raum mit Kuppelbett, Rohrstühlen, Tischen und einem Repositorium für Akten beschrieben, diente sie nicht nur der formalen Rechtsprechung, sondern auch als Arbeits- und Aufenthaltsraum des Gerichtshalters. Dieser wird im Dorf-Articul mehrfach als ausführendes Organ des Gutsherrn genannt und war verantwortlich für die Beurkundung von Verträgen, die Registrierung von Ehestiftungen sowie die Ahndung von Verstößen gegen die Ordnung – etwa bei Gotteslästerung, Trunkenheit oder Flurschäden. Die Gerichtsstube verkörperte damit nicht nur die lokale Instanz der patrimonialen Justiz, sondern war zugleich ein sichtbarer Ausdruck der obrigkeitlichen Macht im dörflichen Alltag. Ihre Existenz zeigt, wie eng normgebende Texte wie die Dorfordnung mit räumlich-institutionellen Herrschaftsformen verzahnt waren.
Quellen
[1] Vgl. Heinrich Bergner: Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Wolmirstedt, Halle a. d. S. 1911, S. 32 ff.
[2] Vgl. Dorf-Articul des Hochfreyherrlichen Schulenburgschen Dorfs Angern, Gutsarchiv Angern, Rep. H Angern Nr. 139.
[3] Vgl. Schulenburg, Christoph Daniel von der: Dorf-Articul, ebenda. Vgl. zur Einordnung auch Sylvia Butenschön (Hg.): Frühe Baumschulen in Deutschland, Berlin 2012; Dorothee Brülls / Holger Könemann: Denkmalverzeichnis Sachsen-Anhalt, Ohrekreis, Petersberg 2001.