Dieser Rundgang durch die Burg Angern um das Jahr 1350 basiert auf einer sorgfältigen Rekonstruktion historischer Quellen, archäologischer Befunde und baugeschichtlicher Analysen. Alle Szenen, Räume und Details wurden unter Berücksichtigung realer Gegebenheiten der mittelalterlichen Anlage entwickelt – etwa der erhaltenen Tonnengewölbe, der typischen Bauweise von Palas, Bergfried und Wirtschaftsflügeln sowie Hinweise aus Inventaren und schriftlichen Überlieferungen. Ziel ist es, nicht nur die äußere Gestalt, sondern auch die Atmosphäre und Lebenswelt einer spätmittelalterlichen Burg erlebbar zu machen – so nah wie möglich an der historischen Realität, doch mit erzählerischer Tiefe. Die Bilder zeigen fotorealistische Rekonstruktionen der Burg Angern um 1350. Sie basieren auf archäologischen Befunden, historischen Quellen und vergleichbarer Bausubstanz – realitätsnah umgesetzt mit moderner KI-Technik.
Von der Vorburg zum Pforthäuschen
Ein Morgen im Jahr 1350. Der Nebel liegt schwer über der Niederung, als ich das hölzerne Tor des Brauhauses aufstoße. Ein kalter Dunst zieht mir entgegen – Rauch, Gerste, feuchte Steine. Das Brauhaus der Vorburg liegt gedrungen am Rand des Wirtschaftshofes, sein grobes Feldsteinmauerwerk von Moos durchzogen, die Dachbalken von zahllosen Bräuvorgängen geschwärzt. Heute ruht es still, die Feuerstelle ist ausgebrannt, der Sudkessel kalt. Ich trete hinaus auf das unebene Pflaster, das von Wagenrädern und schweren Stiefeln gezeichnet ist. Der Hof der Vorburg lebt, doch laut ist er nie. Gänse schnattern aus der Richtung des Stallgebäudes, ein Knecht trägt einen Eimer mit Schrot zur Mühle. Zur Rechten ragt der alte Kornspeicher auf – ein hölzerner Bau mit überstehendem Giebel, windschief, aber standhaft. Eine Katze springt durch ein Loch im Fachwerk.
Der Weg führt mich vorbei an den verfallenden Mauern des Gesindehofs. Fenster ohne Glas, dafür mit Läden aus ungebleichtem Tuch, aus denen gelegentlich Flüche oder Kinderstimmen dringen. Hinter einem Bretterzaun krächzt ein Hahn. Ich halte kurz inne. Der Boden unter meinen Füßen ist durch den nächtlichen Tau weich, meine Stiefel sinken leicht ein. In der Mitte des Hofes steht ein steinerner Trog – zum Waschen, zum Schlachten, für alles, was das Leben im Dienst erfordert.
Vor mir erhebt sich das Pforthäuschen. Ein gedrungener Bau mit schiefergedecktem Dach, halb in die Erhebung zur Zugbrücke hineingeschoben. Ein kleines Fenster – oder besser: ein Schlitz – erlaubt dem Wachposten den Blick auf die Brücke und den Wassergraben. Der Mann dort kennt mich. Er lehnt mit verschränkten Armen an der Mauer, die Hellebarde zur Seite gestellt. Er nickt nur. Worte braucht es nicht. In Zeiten wie diesen zählt ein Blick mehr als ein Gruß.
Ich trete auf die Brücke. Die Zugbrücke liegt gesenkt über dem Graben – vier schwere Ketten halten die Bohlen auf Spannung. Der Geruch von Schilf und Wasser steigt mir in die Nase, durchmisht mit dem süßlichen Duft von Moder und einem Hauch Minze, der von den Uferpflanzen stammt. Das Wasser selbst ist ruhig, ein träger grüner Spiegel, der das Grau des Himmels und die Konturen des nahen Turmes auf der Südinsel zurückwirft. Während ich weitergehe, richtet sich mein Blick auf das Portal der Hauptburg – nichts Prunkvolles, nur ein steinernes Rechteck mit einem Balken über der Tür, darin das Wappen des Erzbischofs. Ich überquere den letzten Schritt der Brücke und spüre das Echo meiner Schritte in den Bohlen. Ein Ort der Schwelle – zwischen Arbeit und Herrschaft, zwischen Dampf und Stein.
Vom Pforthäuschen zur Hauptburg
Ich trete durch das Tor der Hauptburg – und das Geräusch der Welt verändert sich. Die Stimmen werden gedämpft, das Licht weicher. Ich bin im Innenhof. Etwa dreizig Schritt misst das gepflasterte Rechteck, umschlossen von hohen Mauern, deren Zinnen wie gezackte Schattenlinien den Himmel berühren. Der Wind streicht flach darüber hinweg, spielt mit dem aufsteigenden Rauch eines Herdes und trägt das entfernte Knarren eines Flaschenzugs zu mir herüber.
Zur Linken erhebt sich der Palas, das Herzstück der Herrschaft. Ein wuchtiger Bau aus grobem Bruchstein, mit kleinen, tief eingelassenen Fenstern. Einige Fensterläden stehen offen, und aus einem von ihnen hängt ein Tuch – zum Trocknen oder als Sichtschutz. Über dem Eingang ragt ein schlichtes Holzdach vor, das den Aufgang schützt. Ein Kind ruft aus einem der oberen Räume, dann wird es still – nur der Wind streicht über die Mauerkrone.
Zur Rechten liegt der Wirtschaftsflügel. Aus einem offenen Fenster schlägt mir der warme Geruch von frisch gebackenem Brot entgegen, durchmischt mit dem herben Aroma von Kräutern. Ich höre das Klappern von Schüsseln, das Rufen zweier Knechte, das Plätschern von Wasser in einem hölzernen Trog. Vor dem Flügel ist ein kleiner Bereich abgegrenzt – hier wird Wäsche gewaschen, Gemüse geputzt, Fisch ausgenommen. Eine Magd hängt Leinen auf, das Tuch schlägt sacht im Wind.
Von der Brücke zum Innenhof der Hauptburg
Der Boden des Hofes ist uneben, durchzogen von den Spuren der Zeit. Zwischen den Pflastersteinen wächst Gras, tiefe Furchen erzählen von Wagenrädern, die Tag für Tag die gleiche Bahn nehmen. In der Mitte: der Brunnen. Ein grober Steinring, an den Seiten vermoost, das Eisen der Kurbel ist dunkel vom Gebrauch. Ein Eimer schwingt noch nach – jemand hat gerade Wasser geholt. Daneben liegt ein zerbeulter Becher, aus dem wohl einer der Knechte getrunken hat. Ich verweile. Vielleicht nur einen Moment – vielleicht eine Ewigkeit. Dann gehe ich weiter. Und der Wind trägt mir ein neues Geräusch heran – das Klirren von Eisen, das Murmeln einer Stimme. Heute ist ein stiller Tag. Aber selbst in der Stille atmet Angern weiter.
Der Weg durch den Palas – Leben im Herzen der Hauptburg
Ich wende mich dem Palas zu, dem Hauptbau der Burg. Ein gedrungener, zweigeschossiger Bau aus grobem Bruchstein ragt vor mir auf. Seine Mauern sind dick, wettergegerbt und von Moos durchzogen. Die kleinen Fensteröffnungen wirken mehr wie Schlitze – gebaut, um das Licht einzulassen, nicht den Feind. Über eine unregelmäßig behauene Stufe betrete ich den Eingang – kein Portal, sondern ein massives Türblatt aus Eichenbohlen, mit schmiedeeisernen Bändern. Mit jedem Schritt wird die Luft kühler. Feuchtigkeit schlägt mir entgegen, gemischt mit dem Geruch von nassem Stein, altem Holz und dem dumpfen Hauch der Erde. Vor mir öffnet sich ein schmaler, gewölbter Gang – das Mauerwerk aus groben Feldsteinen, von Hand gesetzt, dicht und unregelmäßig gefügt. Wasser tropft von den Fugen, das leise Echo hallt dumpf wider. Irgendwo in der Tiefe fließt Wasser – vielleicht ein alter Abfluss, vielleicht nur der Herzschlag der Burg selbst.
Ich gelange in den ersten Raum: ein niedriger Lagerkeller mit Tonnengewölbe mit einem kleinen Fenster zum Wassergraben. Reihen von Fässern stehen auf hölzernen Gestellen, die Luft ist schwer von Weinaromen. Die Dauben der Fässer schwitzen, manche Fässer sind mit aufgenagelten Lederzetteln versehen – auf einem lese ich: „Anno 1349, Ernt’ vom Südhang Wenddorf.“ Daneben - nur erreichbar über einen 180 Grad Umkehrgang - der Lagerraum für Salz und Korn – in großen Truhen, sorgfältig versiegelt. Über eine liegt ein Tuch mit Wachssiegel, ein Zeichen, dass die Vorräte kontrolliert wurden. Eine Maus huscht zwischen den Säcken hindurch, verschwindet in einem Riss im Mauerwerk.
In der Dämmerung fällt mein Blick auf eine schmale Steintreppe, gleich rechts neben dem Eingang verborgen. Sie windet sich steil nach oben, kaum zwei Fuß breit, die Wände eng, der Stein unter meinen Händen feucht und kühl. Eine eiserne Laterne hängt an einem rostigen Haken, geschwärzt vom Ruß unzähliger Flammen. Ich schlage einen Span aus der Küche an und entzünde den Docht – ein kurzes Aufflackern, ein dünner Lichtkegel. Vorsichtig beginne ich den Aufstieg, Schritt für Schritt, tiefer hinein in das Herz der alten Mauern.
Weinlager im Erdgeschoss des Pallas mit Treppe ins Obergeschoss
Eine schmale, windschiefe Treppe führt hinauf ins Obergeschoss. Die Stufen sind aus abgetretenem Holz, unterschiedlich hoch, manche gespalten, doch stabil. Oben ist es heller – das Licht fällt schräg durch ein kleines Fenster und bricht sich auf Leinentüchern, die über eine Truhe geworfen wurden. In der Ecke steht ein einfaches Bettgestell mit einem Strohsack, darüber eine gefaltete Wolldecke. An einem Haken hängt ein ausgebleichtes Wams, daneben ein eiserner Nasalhelm – nicht neu, aber gepflegt. Dies ist die Kammer des Hauptmanns, vielleicht auch die des Burgherrn, wenn Krieg oder Unsicherheit die Vorzüge des Palas in praktische Enge verwandeln. In einer Nische steht eine grob geschlagene Tonschale, daneben ein Leinenlappen – zum Waschen, wie man es hier kennt: sparsam, kalt, notwendig. Ein kleines Gebetbuch liegt auf der Truhe, gebunden in Kalbsleder, mit fransigem Lesezeichen.
Die Kammer des Hauptmanns im Palas
Zur Rechten öffnet sich eine niedrige Tür aus schwerem Eichenholz. Dahinter liegt die Schreibkammer des Burgherrn – klein, kaum beheizt, mit einem Pult am Fenster, grob gezimmert, die Oberfläche vom Tintenfass gesprenkelt. Ein Pergament liegt ausgerollt, der Federkiel steckt noch im Halter. An der Wand lehnt ein Brett mit zwei Bänden: ein Lehnregister und ein Psalter. Der Raum riecht nach altem Leder, kaltem Rauch und einem Hauch von Wachs.
Die Schreibkammer der Burgherren im Palas um 1350
Im Obergeschoss, im südlichen Teil des Gebäudes, entdecke ich zwischen zwei kräftigen Strebepfeilern fast verborgen eine weitere Tür. Schlicht ist sie, schwer und aus dunkler Eiche gefertigt, verstärkt mit rohgeschmiedeten eisenbeschlagenen Querbändern. Kein Schild, kein Ornament, nichts Verräterisches schmückt sie – doch der abgegriffene eiserne Ringgriff verrät stumm: Hier geht man nicht als Besucher ein und aus.
Ich umfasse den kühlen Metallring und ziehe. Mit einem dumpfen Ächzen, als würde die Burg selbst nachgeben, öffnet sich die schwere Tür und gibt einen dunklen Durchgang frei.
Die Rüstkammer
Der Raum ist kühl und dunkel, nur eine winzige Schießscharte über der Tür lässt einen schmalen Streifen Licht herein, der auf den gestampften Lehmboden fällt. Entlang der Wände stehen niedrige Holzgestelle. Hellebarden, Speere und Langschwerter lehnen sorgfältig sortiert in Reih und Glied. Darüber, an einfachen Haken, hängen Rundschilde, ihre Flächen von zahllosen Einschlägen gezeichnet, die Buckel dunkel angelaufen. Zur Linken reihen sich Kettenhemden und einige wenige Brustharnische – schwere, schmucklose Arbeitspanzer, gebaut für Ausdauer, nicht für Prunk. Über jedem Rüstungsständer hängt ein kleines Täfelchen, grob eingeritzt: Hauptmann, Wache, Reserve.
Rüstkammer der Burg Angern um 1350
Ein niedriger Tisch in der Mitte des Raumes trägt das Werkzeug der Wartung: Schleifsteine, Öltücher, Wetzleder. Daneben ein Haufen Bolzen und Pfeile, sorgsam gebündelt. Auf einem Haken an der Wand hängt ein Signalhorn – bereit, mit einem einzigen Ruf den Hof in Alarm zu setzen. Die Luft ist schwer von Eisen, Leder und altem Holz. Jeder Atemzug hier trägt die Schwere von Pflicht und Vorbereitung. Keine unnötigen Worte, keine Verzierung – nur das, was im Ernstfall Leben und Tod entscheidet. Durch die schmale Tür in der Rüstkammer gelangt man direkt auf eine schmale Zugbrücke aus dunklem Eichenholz, aufgehängt an zwei kräftigen Ketten, die in der Wand verschwinden. Diese Brücke sichert nicht nur den Zugang zur Turminsel, sondern dient auch als schneller Verteidigungsweg und Fluchtweg, wenn die Bedrohung nahe ist.
Aufstieg zur Turminsel – Der Bergfried
Die Brücke spannt sich hoch über den Graben hinweg, keine fünf Schritt lang, doch jeder davon kontrollierbar. Die Bohlen sind glattgetreten, doch das Holz ist solide. Seitlich verläuft ein einfaches Seil als Sicherung. Unten ruht das grünlich schimmernde Wasser, unbewegt. Drüben, auf gleicher Höhe, öffnet sich das eiserne Türloch des Turms – ein schmaler, scharf gerahmter Eingang in das steinerne Herz der Burg. Wer den Bergfried betreten will, muss erst die Brücke überwinden. Und wer sie hochzieht, ist allein. Der Bergfried auf der anderen Seite ragt mit seinem Mauerwerk aus Feldstein in den Himmel, der Eingang dort liegt direkt auf Augenhöhe – ein schmaler, eisenbeschlagener Durchlass in der Mauer. Von den Zinnen herab erklingt der heisere Ruf eines Raben – wie ein uraltes Zeichen, dass hier noch immer Wacht gehalten wird.
Über die Ziehbrücke zum Bergfried
Brücke zwischen Bergfried und Pallas um 1350
Ich gehe hinüber. Der Turm ragt vor mir auf, sieben Stockwerke hoch – ein dunkler Finger aus Bruchstein. Die Tür liegt etwa drei Meter über dem Boden, erreichbar nur über die Brücke. Ich klopfe. Kein Antwort. Ich hebe den schweren Eisenring und ziehe – knarrend öffnet sich die Tür. Drinnen ist es kühl. Die Mauern dick, die Fenster Schlitze. Der erste Raum – vermutlich der Wachraum – enthält einfache Holzbänke, ein Feuerrost, eiserne Haken an der Wand. In einer Ecke liegt ein altes Horn, mit Leder bezogen.
Ich stehe im ersten Stock des Turms – der Eingang liegt hinter mir, gesichert mit einem Riegel. In der Mitte des steinernen Bodens eine schwere Holzklappe, mit Eisen beschlagen. Ich löse den Haken, greife nach der Eisenöse – ein kalter Luftzug schlägt mir entgegen. Unter mir gähnt der Raum – dumpf, feucht, unheimlich still. Eine Leiter führt hinab, nur drei Sprossen sind sichtbar. Der Rest verliert sich in der Dunkelheit. Ich höre ein Tropfen, vielleicht Wasser, vielleicht etwas anderes. Unten erkenne ich schmale Schlitze im Mauerwerk – Schießscharten. Sie liegen tief, fast bodennah, damit sie den Graben kontrollieren können. Kein Licht fällt direkt hinein, aber durch den Nebel sehe ich vage das Grün der Schilfränder. Hierher zog man sich zurück, wenn alles verloren schien. Oder wenn man alles verteidigen wollte.
Erdgeschoss des Bergfrieds mit Schießscharte
Eine Wendeltreppe führt nach oben. Ich steige. Die Stufen sind aus Stein, glatt getreten. Es riecht nach feuchtem Mörtel, nach Jahrhunderten. Im zweiten Geschoss stehen leere Fässer, ein Spinnrad, ein Seil. Im dritten: ein kleines Schreibpult, ein Schemel, ein Wappen an der Wand – Schulenburg. Im vierten: ein Bett, eine Truhe, ein Fensterkreuz. Hier schlief man – hier wurde gewacht, vielleicht auch gehofft. Je höher ich steige, desto heller wird das Licht. Im sechsten Stock der Wehrbereich: Schießscharten in alle Richtungen, ein Signalhorn, ein leerer Kohlebecken. Dann die letzte Luke. Ich stoße sie auf.
3. Stock des Bergfrieds der Burg Angern
Ganz oben – Blick in die Welt
Der Wind empfängt mich wie ein alter Freund. Die Zinnen werfen lange Schatten, der Himmel ist klar. Ich blicke nach Norden – über die Dächer der Hauptburg hinweg zum Pforthäuschen, zum Brauhaus. Alles wirkt klein, geordnet, friedlich. Weiter hinten: Felder, Wälder, der Lauf der Ohre wie ein silbernes Band.
Nach Süden sehe ich den Graben, die zweite Insel, auf der ich stehe – und weiter dahinter: die Welt. Ich bin allein mit dem Wind, dem Himmel und der Geschichte. Unter mir lebt die Burg. Und für einen Moment gehört sie mir.
Blick über die Burg Angern um 1350
Blick nach Süden – bis zur Elbe
Ich drehe mich auf der Plattform des Bergfrieds nach Süden. Der Wind hat hier freien Lauf, er fährt durch mein Haar, zerrt an meinem Umhang, trägt den Geruch von Laub, Wasser und Erde mit sich. Vor mir erstreckt sich das Land – erst sanft abfallend, dann in weitem Bogen ziehend wie ein gefaltetes Tuch aus Feldern, Wiesen und verstreuten Baumgruppen.
Die Burg liegt hoch genug, um über das flache Umland hinwegzusehen. In der Ferne flirrt das Licht – und dann erkenne ich sie: die Elbe. Weit, sehr weit, wie ein silbriger Streif am Horizont. Sie glitzert nur schemenhaft zwischen Pappeln und Weiden, scheint zu atmen, sich zu regen. Kein Dampf, kein Mast, kein Geräusch dringt herauf – und doch ist sie da, uralt und unerbittlich, Grenzfluss und Lebensader. Zwischen mir und der Elbe liegt das weite Land der Altmark. Ich erkenne Buschwerk, Heckenlinien, Feldraine, einige Höfe mit strohgedeckten Dächern – winzig aus dieser Höhe. Ein Reiter bewegt sich auf einem Weg, kaum größer als eine Ameise. Ein Falke zieht seine Kreise über der offenen Fläche, sein Schrei wird vom Wind getragen, ehe er verhallt.
Von hier sehe ich über die Burgmauern hinweg, hinaus bis zur Vorburg. Das Brauhaus liegt im Nebel, geduckt und alt – wie ein schlafender Riese aus Stein. Es ist ein stiller Tag. Und doch lebt alles. In Stein, in Feuer, in Atem. Weiter nördlich ahnt man den Verlauf alter Handelsrouten – breite Striche, auf denen Kaufleute und Pilger ziehen. Doch heute ist es still. Nur der Turm lebt. Und ich mit ihm. Ich lege die Hand auf den warmen Stein der Zinne. Sie war Zeuge all dessen, was geschah – Raub, Krieg, Versöhnung. Und vielleicht sieht sie auch das, was noch kommt.
Ich steige vom Turm herab, überquere die schmale Zugbrücke und trete rechts in den südlichen Bau der Burg, eine schmale Tür führt in den Wehrgang – ich öffne sie und trete hinaus. Der hölzerne Gang zieht sich eng an der Mauer entlang, nicht als Zier, sondern als Zweckbau – raues Holz auf wettergegerbten Balken, der Blick frei auf das Treiben darunter. Unten schleppt ein Knecht einen Eimer, eine Bäuerin beugt sich über ein Beet mit Kohl und Beifuß. Rauch steigt aus dem Schornstein des südlichen Gebäudes – der Geruch von frisch gebackenem Brot vermischt sich mit der feuchten Luft.
Südlicher Wehrgang der Burg Angern um 1350
Ich trete zurück in den Hof. Der Wind, der vom Wassergraben herüberweht, trägt die Kühle des Vormittags und den Ruf eines einzelnen Raben mit sich. Und für einen Moment höre ich hinter mir das leise Knarren der Waffen, als würde die Burg selbst atmen. In der Mitte gähnt der Brunnen, aus dem eben noch ein Knecht mit klirrendem Eimer Wasser zog. Ich wende mich nach Westen, dorthin, wo das Leben der Burg Tag für Tag in Gang gehalten wird – zu den Wirtschaftsgebäuden.
Der westliche Wirtschaftsflügel ist ein langgestreckter Bau aus Bruchstein. Schon am Geruch erkenne ich seine Funktion: frischgebackenes Brot, Lauge, Asche, Rauch – der Herzschlag der Versorgung. Durch eine offene Klappe sehe ich in die Backstube. Eine Magd streut Mehl auf eine hölzerne Platte, daneben reibt ein Junge die Reste von Teig aus einem Trog. Der Steinofen in der Wand glüht noch leicht nach. Ein schmaler Gang führt weiter zur Küche – niedrig, verrußt, voll Geräusche. Ein Kupferkessel hängt über der offenen Feuerstelle, Zwiebeln und Kräuter trocknen in Bündeln von der Decke. Eine Magd bläst das Feuer an, während eine andere Wurzeln schneidet. Im Eck steht ein Fass mit Sauerkraut, daneben hängen gerupfte Hühner auf einem eisernen Haken. Der Boden ist mit Schilf gestreut, gegen den Schmutz, gegen den Gestank.
Küche im Wirtschaftsgebäude der Burg
Neben der Küche liegt das Waschhaus – hier wird geschrubbt, gekocht, getrocknet. Über einem offenen Bottich steigt Dampf auf, eine Frau mit hochgekrempelten Ärmeln hebt nasse Laken mit einem Holzstock heraus. Ihre Hände sind rot vom Laugenwasser. Am Fenster hängen Leinentücher zum Trocknen – durchweicht vom Morgentau. Weiter entlang der Mauer stoße ich auf den Speicherbau. Zweigeschossig, aus dunklem Holz, mit Luken in der oberen Etage. Eine Seilwinde knarzt, als ein Sack Getreide nach oben gezogen wird. Das Seil läuft über eine einfache Rolle, der Träger auf dem Boden ruft Kommandos nach oben. Drinnen riecht es nach Staub, Korn, Mäusedreck – aber auch nach Vorrat, nach Überleben. Hinter dem Speicher liegt der Stall. Pferde schnauben leise, ein Huf schlägt gegen Holz. Eine Magd streut frisches Stroh, der Stallknecht prüft einen Sattelriemen. In einer Nische hängen Zaumzeug und Peitschen, daneben das Tuch eines Knechts, das noch nach Tier und Leder riecht.
Stalltrakt im Wirtschaftsgebäude der Burg Angern
Etwas abseits liegt der Schweinekoben, umzäunt mit Holzplanken, überdacht mit Reet. Zwei Borstentiere wühlen im Matsch, ein drittes döst in der Sonne. Dahinter ein kleiner Geräteschuppen – Spaten, Rechen, Haken, ein zerschlissenes Seil. Noch weiter hinten, wo das Gelände zur Vorburg hinabfällt, steht ein kleiner hölzerner Bau – das Schlachthaus. Eine schmale Rinne führt von der Schwelle in den Boden, wo Blut ablaufen kann. Es riecht metallisch, scharf, nicht unangenehm – sondern real. Eine Welt ohne Illusionen, dafür mit Ordnung. Ich bleibe einen Moment stehen. Alles hat hier seinen Platz, jede Hand weiß, was sie zu tun hat. Keine Pracht, kein Prunk – aber Effizienz, Notwendigkeit und das, was ein Lehnshof braucht, um zu funktionieren.
Ein leiser Wind fährt über die Dächer, trägt Rauch und Hufgeruch mit sich, vermischt mit dem Duft von gebackenem Brot. Ich ziehe die Kapuze hoch und trete aus dem Schatten des Speichers. Der Tag hat begonnen. Und die Burg lebt.