Ein Reichsgesetz im Kanzleibuch: Der Reichstagsabschied von 1654 im Archivbestand Angern. Der im Original überlieferte Druck des Reichstagsabschieds von 1654, eingebunden in ein handschriftliches Formularbuch aus dem 18. Jahrhundert, stellt ein einzigartiges Zeugnis der Rechtspraxis und Verwaltungsgeschichte im mitteldeutschen Raum dar. Die Kombination eines gedruckten Verfassungstextes mit praktischen Vertragsmustern verweist auf einen bewussten juristischen Gebrauch und bietet Einblick in das lokale Amts- oder Gutsarchivwesen nach dem Dreißigjährigen Krieg. Das hier untersuchte Exemplar stammt aus der Bibliothek der Familie von der Schulenburg in Angern (Altmark) und eröffnet eine doppelte Perspektive auf Reichsrecht und Gutspraxis.
Teil A: Der Reichstagsabschied von 1654
Der sogenannte „Jüngste Reichsabschied“ wurde am 17. Mai 1654 am Ende des Regensburger Reichstags unter Kaiser Ferdinand III. verabschiedet. Er stellte die rechtskräftige Integration der westfälischen Friedensverträge (1648) in das Reichsrecht dar und regelte darüber hinaus zentrale Fragen der Reichsverfassung, Verwaltung und Justiz. Der Text besteht aus einer Vielzahl von Artikeln, die unter anderem folgende Bereiche betreffen:
- Religionsfrieden und Gleichstellung: Die konfessionelle Gleichstellung der Reichsstände (ius reformandi, paritas in Gerichten und Städten).
- Justizwesen: Neuordnung des Reichskammergerichts, Festlegung von Zuständigkeiten und Besetzungsregeln, rechtliche Absicherung der Reichskreise.
- Finanzen und Steuern: Verteilung der Reichssteuern und Kontributionslasten, Regelungen zur Schuldenrückzahlung (Zinsmoratorien).
- Heereswesen: Beschlüsse zur Aufrechterhaltung der Reichsarmee, Verteilung militärischer Lasten.
- Reichstagspraxis: Festlegung des Verhandlungsmodus und der Reichstagsordnung.
Die Einbindung dieses reichsgesetzlichen Dokuments in ein Formularbuch des 18. Jahrhunderts legt nahe, dass der Text nicht bloß aus antiquarischem Interesse gesammelt wurde, sondern als verbindlicher Rechtsrahmen für die praktische Anwendung diente. Der Reichstagsabschied bildete die normative Grundlage für viele Rechtsakte, wie sie im handschriftlichen Teil konkretisiert sind.
Teil B: Die Formularsammlung im Kanzleibuch Angern (ca. 1730–1780)
Teil B des Kanzleibuchs umfasst eine handschriftliche Formularsammlung aus der Zeit zwischen 1730 und 1780, die juristische Mustertexte zu Kaufverträgen, Stiftungen und Sicherungserklärungen enthält und die alltägliche Rechts- und Verwaltungspraxis eines altmärkischen Ritterguts in standardisierter Form dokumentiert.
I. Kaufverträge (Forma I–II): Die ersten Einträge des handschriftlichen Teils bestehen aus standardisierten Kaufverträgen für Haus und Hof. Die Texte beginnen mit der Formel "Kund und zu wissen sei manniglich..." und enthalten alle wesentlichen juristischen Bestandteile eines Besitzwechsels: Benennung der Vertragsparteien, Beschreibung des Kaufobjekts, Kaufsumme in Reichstalern (z. B. "2500 ℛ"), Zeitpunkt und Ort der Besitzübergabe, Angabe von Zeugen sowie Verpflichtung zur Rechtskraft und Anerkennung durch Erben. Besonders hervorzuheben ist die Auflistung von neun "Requisita", die als konstituierende Elemente eines rechtskräftigen Kaufvertrags gelten:
- Consentientes (Zustimmende Personen)
- Causa oder der Beweggrund
- Pretium (Kaufpreis)
- Locus et Tempus (Ort und Zeit)
- Renunciatio Exceptionum (Rechtsverzicht)
- Confirmatio (Bestätigung)
- Obligatio et Promissio (Verpflichtung und Versprechen)
- Stipulatio et Fidejussio (Vertragsversprechen und Bürgschaft)
- Actum, Datum et Testes (Datierung und Zeugen)
Eine zweite Vertragsform "Forma II" bietet eine alternative Struktur, vermutlich für Fälle mit besonderem Erbschutz oder Vormundschaft.
II. Stiftungen und Vermächtnisse: Ein weiterer Abschnitt widmet sich Stiftungen und Vermächtnissen. Diese Formulare regeln die Übertragung von Vermögenswerten an kirchliche, gemeinnützige oder familiäre Einrichtungen. Typische Elemente sind die genaue Bezeichnung des Stiftungszwecks, die Benennung der Nutznießer (oft in Generationenfolge), die Festlegung von Bedingungen oder Auflagen sowie die Ausschlussklausel gegen Rückforderung durch Gläubiger oder Nachkommen. Die Sprache ist bewusst fromm und moralisch gehalten („aus christlicher Liebe“, „zur Erhaltung meiner Seelenruhe“).
III. Versicherungen und Rücktrittsklauseln: Ein größerer Teil der Handschrift beschäftigt sich mit Versicherungserklärungen im Sinne rechtlicher Sicherungsversprechen. Diese Texte sind auf mögliche Vertragsbrüche, Erbstreitigkeiten oder Vormundschaftsregelungen ausgerichtet und zeugen von einer differenzierten Absicherungspraxis im ländlichen Raum. Es finden sich Formulierungen wie "ob mir gleich ... dennoch verspreche ich ..." oder "daß mein Vormund ... solches in meiner Abwesenheit gesichert habe".
IV. Summenvermerke und Entwurfsskizzen: Einzelne Seiten enthalten nur numerische Angaben (z. B. "2500 ℛ", "1000 ℛ") oder fragmentarische Satzanfänge. Dies sind vermutlich Entwurfsskizzen oder vorbereitende Berechnungen für Verträge, bevor sie in Reinform ausgearbeitet wurden. Teilweise sind Varianten oder Streichungen vermerkt, was auf eine wiederholte praktische Nutzung der Seiten hinweist.
Provenienz und Materialität des Exemplars aus Angern
Das in Angern erhaltene Exemplar wurde in der Mainzer Offizin des Nicolaus Heyll gedruckt. Es zeigt auf dem Titelblatt das kaiserliche Doppeladler-Wappen mit der Inschrift "Ferdinandus III. Dei gratia Elect. Rom. Imp. Semper Aug." Der Druck erfolgte mit Privileg des Reichs und enthält im weiteren Verlauf den vollständigen lateinischen Originaltext des Abschieds, einschließlich der Unterschriften der Gesandten, u. a. aus Mainz, Sachsen, Brandenburg, Bayern und Kurköln. Es handelt sich um eine hochwertige Ausfertigung mit klarem Satzbild, wie sie in offiziellen Kanzleien oder bei adligen Archivbesitzern üblich war.
Das Besondere an diesem Exemplar liegt jedoch in seiner späteren Einbindung: Der Reichstagsabschied wurde Teil eines handschriftlichen Vertrags- und Formularbuchs, das in Kanzleischrift rund ein Jahrhundert später entstanden ist. Diese Kombination legt nahe, dass der Druck nicht als historisches Sammelobjekt verwahrt wurde, sondern als Referenztext für laufende Verwaltungspraxis diente – etwa für die Gutsjustiz, Hausverkäufe, Stiftungsregelungen oder Schuldverschreibungen.
Hypothese: Croon als möglicher Verfasser des Formularbuchs
Aufgrund stilistischer und inhaltlicher Übereinstimmungen ist es plausibel, dass die handschriftlichen Vertragstexte im Formularbuch entweder von Croon selbst verfasst wurden oder in seinem unmittelbaren Umfeld entstanden sind. Croon war in den 1730er bis 1760er Jahren als juristischer Ratgeber und Bevollmächtigter von Christoph Daniel von der Schulenburg tätig. In den Archivbeständen von Angern ist er mehrfach nachweisbar, etwa in den Quellen Rep. H Nr. 336, 409 und 412, in denen er Verträge formulierte, Gutskäufe begleitete und juristische Bewertungen verfasste.
Die Sprache des Formularbuchs – mit Wendungen wie „mit willigem Muth und Sinn“, „ledig und unbestritten“, „vormundschaftlich versichert“ – entspricht auffallend Croons Stil in anderen Schreiben. Zudem spricht die Verbindung des Formularbuchs mit einem Reichsabschiedsexemplar für ein juristisch gebildetes, systematisch denkendes Umfeld, wie es bei Croon zweifelsfrei gegeben war. Ein endgültiger Beweis bleibt jedoch aus, da bislang weder eine Signatur noch ein Besitzvermerk vorliegen.
Funktion im lokalen Verwaltungskontext
Die Adelsfamilie von der Schulenburg, die seit dem 17. Jahrhundert das Gut Angern verwaltete, unterhielt eine eigenständige patrimoniale Gerichtsbarkeit. Die handschriftlichen Formulare im Kanzleibuch (u. a. „Forma eines Kaufs“, „Forma einer Stiftung“, „Versicherungsversprechen“) deuten auf eine systematische Sammlung von rechtlich bewährten Textmustern hin, die im administrativen Alltag Verwendung fanden. Die Einbindung des gedruckten Reichsrechtsakts am Beginn des Bandes ist dabei als Autoritätsbezug zu verstehen: Die Gutsverwaltung verwies damit auf die Legitimation ihrer Urteilsfindung im Rahmen des geltenden Reichsrechts.
Solche Konvolute sind selten überliefert, da sie nur in Kanzleien oder adeligen Verwaltungsstellen in Gebrauch waren und durch ihre Nutzung einem hohen materiellen Verschleiß unterlagen. In Angern scheint der Druck nicht nur bewahrt, sondern aktiv genutzt worden zu sein – als Basis für lokales Rechtshandeln und vermutlich auch zur Ausbildung von Verwaltern oder Juristen.
Bewertung und Forschungswert
Das vorliegende Exemplar erlaubt es, den normativen Geltungsbereich des Reichstagsabschieds von 1654 in den lokalen Raum der Herrschaftsausübung zu überführen. Es verbindet den „großen“ Reichshorizont mit dem „kleinen“ Verwaltungskontext und dokumentiert so die konkrete Rezeption und Anwendung zentralstaatlicher Gesetzgebung in der Peripherie des Heiligen Römischen Reiches. In Verbindung mit den überlieferten Inventaren des Schlosses Angern (Rep. H Nr. 76, 79, 412) und dem genealogischen Bestand der Familie von der Schulenburg lässt sich ein geschlossenes Bild der frühneuzeitlichen Gutsherrschaft und ihrer juristischen Selbstverortung rekonstruieren.
Fazit
Der gedruckte Reichstagsabschied von 1654 im Bestand des Gutsarchivs Angern ist kein isoliertes Dokument, sondern Teil eines funktionalen Verwaltungskonvoluts. In Kombination mit handschriftlichen Kanzleiformeln des 18. Jahrhunderts spiegelt er die Überlappung von Reichsrecht und Gutspraxis wider. Aufgrund stilistischer und inhaltlicher Übereinstimmungen ist es plausibel, dass die handschriftlichen Vertragstexte im Formularbuch entweder von Croon selbst verfasst wurden oder in seinem unmittelbaren Umfeld entstanden sind. Croon war in den 1730er bis 1760er Jahren als juristischer Ratgeber und Bevollmächtigter von Christoph Daniel von der Schulenburg tätig. Als juristisches Gebrauchsbuch bezeugt das Exemplar nicht nur den letzten formellen Reichstagsabschied, sondern auch die aktive Fortwirkung imperialer Rechtskultur im lokalen Alltag barocker Gutsherrschaft.
Quellen
- Originalexemplar: Abschied Der Römischen Kayserlichen Majestät und gemeiner Stände auf dem Reichstag zu Regensburg Anno 1654, Mainz: Nicolaus Heyll (1654)
- Gutsarchiv Angern, Rep. H Angern Nr. 76 (Inventar 1739), Nr. 79 (Bauangelegenheiten), Nr. 336, Nr. 409, Nr. 412 (juristische Korrespondenz Croon)
Literatur
- Stolleis, Michael: Public Law in Germany 1600–1800. Oxford: Oxford University Press, 2004.
- Oestmann, Peter: Rechtsvielfalt vor Gericht: Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich. Köln: Böhlau, 2010.
- Brückner, Wolfgang: Die Reichsabschiede des Alten Reiches. In: Archiv für Kulturgeschichte 54 (1972), S. 267–292.
- Neuhaus, Helmut: Das Reich in der Frühen Neuzeit. München: Oldenbourg, 2003.
- Müller, Heribert: Der Westfälische Frieden. Stuttgart: Reclam, 1997.