Der sogenannte Irrgarten – oder Heckenlabyrinth – ist ein charakteristisches Element barocker Gartenkunst. In der Gartenanweisung von Christoph Daniel von der Schulenburg für die Anlage in Angern erscheint er nicht nur als gärtnerisches Gestaltungselement, sondern als deutlich ausgewiesener und symbolisch aufgeladener Gartenraum. Der Irrgarten in Angern ist mehr als ein Spielraum – er ist ein symbolischer Raum der Selbstprüfung und Selbsterkenntnis, ein Übergang vom öffentlichen zum privaten, vom Sichtbaren ins Symbolische. Er bildet das Gegenstück zur rationalen Strenge des Parterres, ist aber zugleich Teil derselben geistigen Choreografie: Ordnung durch Erfahrung, Klarheit durch Umweg, Erkenntnis durch Irrtum.
Seine Darstellung in der Karte und seine ausführliche Berücksichtigung in der Pro Memoria zeigen, dass Schulenburg diesem Raum eine zentrale Rolle im Garten zuwies – als pädagogischen, ästhetischen und emotionalen Ort innerhalb der barocken Gartenwelt von Angern.
Funktion und Bedeutung
Seine Funktion geht weit über bloße Unterhaltung hinaus. Im barocken Verständnis ist der Irrgarten ein allegorischer Ort, an dem sich der Besucher spielerisch und zugleich sinnbildlich mit Themen wie Verirrung, Erkenntnis und Selbsterfahrung auseinandersetzt. Dass Schulenburg diesen Raum gezielt einplant, belegt seinen Anspruch, ästhetische, moralische und geistige Dimensionen des Gartens zu verknüpfen. In der Pro Memoria taucht der „Irr Garten“ mehrfach als räumlicher Orientierungspunkt auf. So etwa in Punkt 5, wo eine zentrale Sichtachse beschrieben wird:
„Dieser Platz soll auf beyden Seiten dieser angelegten Allee bis an den Haubt Gang und den Irr Garten, nicht mit Bäumen besetzet, sondern Frey und Ledig bleiben.“ (Schulenburg, Pro Memoria, Punkt 5)
Der Irrgarten erscheint hier als Zielpunkt einer geplanten und offenbar nicht realisierten weiteren Ost-West-Achse, die vom Gittertor im Osten durch den Thiergarten bis an die Teiche führen sollte. Die angrenzenden Flächen sollten bewusst freigehalten werden, um die Sicht auf den Irrgarten als räumliche und symbolische Mitte nicht zu verstellen. Auch Punkt 6 weist darauf hin:
„[…] muß so weit es möglich bis gegen die Teiche zu continuiret werden.“ (Punkt 6)
Diese Formulierungen zeigen: Der Irrgarten war kein isoliertes Element, sondern Teil einer größeren Gartenchoreografie, die in klaren Achsen und Übergängen komponiert war.
Gestaltung laut historischer Skizze
Auf der historischen Gartenkarte von Schloss Angern ist der Irrgarten klar erkennbar: im südöstlichen Teil des ummauerten Gartens, südlich des Schlossgrabens, östlich des Parterres.
- Er besitzt eine nahezu quadratische Form und ist von Wegen gerahmt, die ihn sichtbar von den angrenzenden Flächen abgrenzen.
- Das Innere zeigt ein regelmäßiges Wegesystem, das typisch ist für barocke Labyrinthe: geometrisch, verschachtelt, mit Umwegen und Gängen – aber klar strukturiert.
- In der Mitte des Irrgartens ist eine kleine freie Fläche erkennbar, vermutlich das Ziel des Wegesystems. Diese Mitte dürfte bewusst gestaltet gewesen sein – etwa mit einer Bank, einem Pavillon, einer Figur oder einfach als stiller Rasenraum.
- Die Struktur ist auf Symmetrie und Inszenierung hin ausgelegt: Der Zugang erfolgt vermutlich vom Ost-West-Hauptweg des Gartens, der direkt in die Zone des Irrgartens mündet.
Räumliche Einbindung und Nachbarschaft
Ein weiterer Hinweis zur Position des Irrgartens findet sich in Punkt 12:
„…müßen von Heyn Büchen Grüne Cabineis angelegt werden hinter den Irrgarten, wo jetzo der Alte Bim Baum stehet […]“ (Punkt 12)
Hier zeigt sich: Der Irrgarten fungiert als Vorfeld für die dahinterliegenden „Grünen Kabinette“ – abgeschiedene Bereiche, die durch dichte Hecken oder Bäume eingefasst sind und als privater Rückzugsort dient. Diese Räume boten Schutz vor Wind und Sonne und ermöglichten diskrete Gespräche oder Mußestunden abseits der Hauptwege. Die Abfolge vom offenen Parterre, über den Irrgarten, in die geschlossenen grünen Räume folgt der barocken Dramaturgie vom Öffentlichen ins Private, vom Sichtbaren ins Verborgene. Der gestalterische Abschluss dieser Sequenz wird in Punkt 18 benannt:
„Das Umschweiff der Garten Mauer hinter dem Irr Garten wird Rouss oben mit einem Bogen, und so machen, daß ein Perspectiv darein Bemallet werden könne.“ (Punkt 18)
Das hier erwähnte „Perspectiv“ verweist auf ein illusionistisches Architekturmotiv – eine typische Technik der Barockzeit, um Raumgrenzen optisch zu öffnen.
Die Grünen Cabinets im Osten des Gartens – Rückzugsräume zwischen Irrgarten und Allee
Mit Punkt 12 der Pro Memoria betritt der Garten eine neue dramaturgische Ebene: Ausgehend vom zentralen Irrgarten entfaltet sich eine gestaffelte Zone von halbprivaten Rückzugsräumen, die durch architektonisch gefasste Heckenräume, sogenannte Grüne Cabinets, strukturiert werden. Der Text verweist zunächst auf ein bereits bestehendes, rundes grünes Cabinet in der „Rundnung“ – vermutlich am östlichen Ende der blauen Ost-West-Achse gelegen und auf der Skizze sichtbar, als „das alte grüne Cabinet“ bezeichnet – und ordnet es in einen gestalterischen Gesamtplan ein:
„In allen […] sowohl als in der Rundnung, wo jetzo das Alte Grüne Cabinet stehet, müssen von Heyn Büchen Grüne Cabineis angelegt werden […]“ (Punkt 12)
Neben der Pflege des Bestands fordert Schulenburg die Neuanlage eines zweiten, größeren Raumes: ein viereckiges Cabinet aus geschnittener Hainbuche, das hinter dem Irrgarten, an der Stelle eines alten Baums („Bim Baum“), entstehen soll. Dieser Bereich ist in der historischen Skizze östlich des Irrgartens erkennbar – dort, wo heute ein locker bepflanzter Abschnitt an den Thiergarten grenzt. Das Cabinet soll, so der Text, nicht nur für sich stehen, sondern gezielt eingebettet werden in eine gestalterische Hülle:
„[…] soll ein großes viereckiges Cabinet auch von Heyn Büch angelegt, und um dasselbe ein dickes Busquet allerhandt Gebüsch formiret werden.“
Das Busquet – ein dichter Gehölzsaum – ist ein klassisches barockes Gestaltungselement. Es schützt nicht nur vor Wind und Blicken, sondern schafft durch seine dichte Struktur eine akustische und atmosphärische Abschirmung vom offenen Gartenraum. In Angern folgt die Anlage damit dem französischen Vorbild, bei dem solche Räume als Erlebnisstationen im Übergang von Ordnung zu Natur dienten. Wichtig ist dabei die Anbindung an das übrige Wegenetz. Auf der Seite des Cabinets zur Mauer hin soll eine Allee erhalten bleiben, die nicht überdeckt oder unterbrochen werden darf. Vielmehr wird gefordert, das Cabinet mit einer Tür direkt an diese Allee anzubinden:
„[…] auf der Seite dieses Cabinets an der Mauer aber, muss die anzulegende Allee bleiben, auch aus diesem Cabinet eine breite Thüre in die Allee gehen, damit wann man Spatzieren will, gleich dahinein treten kann.“
Gemeint ist wohl eine Allee, die entlang der nordöstlichen Gartenmauer verlief – möglicherweise im Bereich des Obstgartens. Diese Passage verweist auf die barocke Idee der Übergänge, Sichtbezüge und Blickregie: Von der formalen Mitte des Gartens (dem Parterre) führt der Weg durch das rätselhafte Spiel des Irrgartens in die introvertierten Gartenräume – aber immer verbunden mit der Struktur der Achsen. Die Tür in die Allee ist kein bloßer Durchgang, sondern Teil einer bewussten barocken Inszenierung: ein Weg in die „freie Natur“, der zugleich geordnet bleibt. Dass der Plan bereits in Umsetzung war, belegt die Anmerkung:
„(ist theils geschehen, theils geschiehet es noch).“
Fazit: Die Grünen Cabinets hinter dem Irrgarten sind keine dekorativen Nebenschauplätze, sondern bewusst komponierte barocke Erlebnisräume. In ihnen verschmelzen Ordnung, Rückzug, Sinnesansprache und Bewegung. Punkt 12 dokumentiert exemplarisch, wie Christoph Daniel von der Schulenburg nicht nur Gartenräume anlegt, sondern barocke Gartendramaturgie in Form und Funktion umsetzt – mit gestaffelten Räumen, klaren Achsen und einem feinen Gespür für Inszenierung und Übergang. Ihre Lage am Übergang zwischen Irrgarten und Ost-West-Achse, an der Schwelle zum Thiergarten, verleiht ihnen eine besondere Rolle in der Choreografie des Angerner Gartens.
Pflanzenmaterial und bauliche Ausführung
Die Heckenstruktur des Irrgartens wird im Text nicht im Detail beschrieben, doch Punkt 12 nennt Hainbuche („Heyn Büch“) als Material für die angrenzenden grünen Kabinette. Da dies eine klassische Pflanze für Heckenlabyrinthe ist – schnittfest, dicht, langlebig –, ist anzunehmen, dass auch der Irrgarten selbst daraus bestand. Die Wege waren vermutlich gestampfte Erde oder feiner Kies, in der Mitte evtl. mit Rasen oder einer festen Fläche. Eine einfache, regelmäßige und pflegeintensive Anlage – typisch für barocke Gärten mit symbolischem Anspruch.
Quelle: Gutsarchiv Angern, Rep. H 79