Die barocke Gartenanlage des Schlosses Angern, gestaltet um 1745 unter Christoph Daniel von der Schulenburg, verbindet auf exemplarische Weise formale Strenge mit funktionaler Mehrfachnutzung. Neben geometrischen Parterres, Achsensystemen, Laubengängen und Irrgärten spielt das Spalierobst eine herausragende Rolle – als gestalterisches Mittel, wirtschaftlicher Ertragsfaktor und symbolischer Träger der barocken Ordnungsidee.
Pflanzanweisung in der Pro Memoria (1745)
Die systematische Bepflanzung der Gartenmauern mit Spalierobst ist in Punkt 8 der Pro Memoria ausdrücklich angeordnet. Dort heißt es:
„Die Mauer selbst, muß Rundtherum mit Schönen Spaliers bezogen werden, dazu man von Allerhandt Sorten Gewächse, als Pflaumen, Kirschen, Äpffel, Birn, Pfersiche, Abricosen, Haßel Nüße, Himbern, Enfin alles was gut Bekleidet nehmen kann […]“ (Pro Memoria, Punkt 8)
Die Bandbreite der erwähnten Gehölze zeigt die Absicht, die ganze Vielfalt verfügbarer Obstsorten zu nutzen. Der Ausdruck „alles, was gut Bekleidet werden kann“ verweist nicht nur auf die Fähigkeit der Pflanzen, Mauern dicht zu beranken, sondern auch auf ihre ästhetische Wirkung als strukturierende Wandbegrünung im Raum. Die Auswahl umfasst sowohl robuste einheimische Arten (Pflaumen, Kirschen, Äpfel, Birnen, Haselnüsse, Himbeeren) als auch wärmeliebende Exoten wie Pfirsiche und Aprikosen. Letztere gedeihen besonders gut an geschützten, sonnenexponierten Mauerabschnitten, wie sie ein barockes Gartenkonzept in Südausrichtung typischerweise bietet.
Gärtnerische Präzision und Schutz
Christoph Daniel von der Schulenburg beschränkt sich jedoch nicht auf die Pflanzenauswahl, sondern ergänzt konkrete Anweisungen zur Pflanztechnik:
„Alle diese Spaliers aber, müssen nicht höher als bis an den Mauer Stein, wo das Dach draut stehet gehen, damit das Dach allezeit über denselben herausstehet.“ (Pro Memoria, Punkt 8)
Damit wird eine gestalterische und praktische Obergrenze festgelegt. Das überstehende Mauerkrönungsdach dient als Witterungsschutz und verhindert Schäden durch Regen und Schnee. Die Pflanzen bleiben in einem kontrollierten Wuchsbereich, der den barocken Anspruch an Maß, Ordnung und Eingrenzung widerspiegelt. Ein weiteres Detail betrifft die Abstandsbepflanzung:
„Es ist auch zu Observiren, daß diese Spaliers nicht gantz und gar, nahe an der Mauer, sondern etwa einen Fuß von derselben gesetzet werden, damit sie nach gehabtem Schlimmen Wetter wieder trocknen können.“ (Pro Memoria, Punkt 8)
Diese Bemerkung zeugt von mikroklimatischem Verständnis: Ein Abstand zur Mauer fördert die Luftzirkulation, schützt vor Staunässe und Pilzkrankheiten und erleichtert die Pflege. Der Text zeigt damit eine ausgeprägte Sensibilität für gesundes Wachstum in gestalteter Natur.
Spalierführung entlang der Mauerwege
Bereits Punkt 7 der Pro Memoria enthält einen weiteren Hinweis auf das gestalterische Gesamtkonzept im Zusammenhang mit den Mauerbereichen:
„Die Allee oder der Gang an der Mauer, mus so wie sie angefangen gantz herum gezogen werden, außen an dem Irr Garten […]“ (Pro Memoria, Punkt 7)
Diese Anweisung beschreibt eine umlaufende Allee oder Wegführung entlang der Gartenmauer – insbesondere im Bereich des südöstlichen Gartens beim Irrgarten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Allee mit Spalierpflanzungen kombiniert wurde, sodass Spaziergänge entlang der Mauern zugleich als visuelles und olfaktorisches Erlebnis inszeniert waren – ein Zusammenspiel aus Raumstruktur und sinnlicher Erfahrung.
Spalierobst am Schloss selbst: Kontinuität bis 1945
Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis dieser gärtnerischen Praxis findet sich außerhalb des eigentlichen Gartens, direkt am Schlossgebäude selbst: Am Keller des Schlosses Angern sind bis heute originale Spalierhaken aus der Barockzeit erhalten. Dies legt nahe, dass auch die Fassaden des Schlosses in die Obstgestaltung einbezogen waren. Diese Annahme wird durch eine Quelle aus der Mitte des 20. Jahrhunderts bestätigt: Sigurd Graf von der Schulenburg, letzter Eigentümer des Schlosses vor der Enteignung 1945, berichtet in seinem Tagebuch, dass an dieser Stelle bis in jenes Jahr hinein Wein geerntet wurde. Diese historische Kontinuität belegt eindrucksvoll die Langlebigkeit der barocken Gestaltungssysteme in Angern: Die ursprünglich geplanten Elemente wurden nicht nur umgesetzt, sondern über zwei Jahrhunderte hinweg gepflegt, genutzt und erhalten – ein lebendiges Zeugnis gelebter Gartenkultur.
Weinreben zwischen den Obstbäumen
Die Pro Memoria erwähnt neben den Spalieren entlang der Mauer eine zweite Ebene der Rebenkultur, diesmal im oberen Teil des Gartens in Verbindung mit bestehenden Obstbaumquartieren. In Punkt 17 heißt es:
„Oben wo die Obst Bäume stehen, sollen zwischen jedem Baum wie es sich am besten schicken will ein Wein Stock gesetzet, und nicht länger als Mannshöhe gezogen werden.“ (Pro Memoria, Punkt 17)
Diese Maßnahme ist funktional und gestalterisch zugleich: Zwischen den hochwachsenden Obstbäumen wird je ein Weinstock platziert, dessen Wuchshöhe bewusst auf etwa 1,60 m begrenzt bleibt. Dadurch entsteht eine mehrschichtige Bepflanzung mit klarer Rhythmisierung, besserer Raumnutzung und guter Lichtdurchlässigkeit.
Standort und Garteneinbindung
Die Standorte der Spalier- und Rebenpflanzungen lassen sich durch Textquellen und Skizzen gut verorten:
- Die Spalierobstpflanzungen befanden sich entlang der gesamten Innenseite der Gartenmauern, mit wärmeliebenden Arten an den Süd- und Westseiten (Pfirsich, Aprikose, Wein) und robusteren Sorten an den Nord- und Ostabschnitten (Apfel, Birne).
- Die Weinstöcke wurden wohl im Bereich der oberen Obstquartiere gepflanzt – in regelmäßigen Abständen zwischen den dort vorhandenen Obstbäumen.
Symbolik des Spalierobsts im Barock
Spalierobst war im Barock nicht nur Ausdruck gärtnerischer Meisterschaft und wirtschaftlicher Vernunft – es trug auch symbolische Bedeutung. Der geformte Baum war ein Sinnbild für die Zivilisierung der Natur, für Maß, Disziplin und Rationalität. Die gebändigte Form spiegelte den Anspruch des Menschen wider, die Schöpfung zu gestalten und zu ordnen. Besonders der Weinstock trug in der barocken Gartenkultur christlich geprägte Deutungen: Als Symbol für Fruchtbarkeit, Leben, Mäßigung und das Blut Christi wurde er – wenn kultiviert und gepflegt – zur Allegorie der inneren wie äußeren Ordnung. In diesem Sinne ist die durchgeplante Reben- und Spalierstruktur von Angern auch visuelle Moral: eine Lehre von Maß und Fruchtbarkeit, von Schönheit durch Form.
Fazit: Der Einsatz von Spalierobst und Weinreben im Garten von Angern ist ein Musterbeispiel barocker Gartenkultur zwischen Funktionalität und Inszenierung. Die überlieferten Anweisungen zeigen Schulenburgs Anspruch, den Garten nicht nur nach ästhetischen, sondern auch nach klimatischen, ökonomischen und symbolischen Gesichtspunkten zu gestalten. Die Kombination aus Spaliermauern, Alleewegen, Obstquartieren und Rebenbepflanzung verdeutlicht, wie eng in Angern Raumstruktur, Naturbezug und Nutzpflanzung miteinander verbunden waren. Nicht zuletzt die Spalierhaken am Schloss und die Weinernte des Jahres 1945 zeigen: Diese gärtnerischen Konzepte waren nicht nur Theorie, sondern gelebte Praxis – über Generationen hinweg.
Quelle: Gutsarchiv Angern, Rep. H 79; Tagebuch Sigurd Graf von der Schulenburg