Die Ostseite der Hauptburg von Angern im Mittelalter – Palasfunktion und bauliche Ausgestaltung. Die Ostseite der Hauptburg von Angern bildet in der mittelalterlichen Phase der Anlage vermutlich den repräsentativen Hauptflügel der Kernburg. Topographisch grenzt dieser Flügel unmittelbar an den schmalen Wassergraben zur Turminsel, wobei der Abstand zum Bergfried nach Auswertung der Grundrisslage und der Geländetopographie lediglich rund fünf Meter betrug. Dies erlaubt die Annahme einer funktionalen und symbolischen Verbindung zwischen den beiden architektonischen Hauptkomponenten der Anlage: dem Wehrturm als Zeichen militärischer Präsenz und dem Palas als baulichem Ausdruck herrschaftlicher Repräsentation und Verwaltung.
Die Annahme, dass der östliche Flügel der Hauptburg die Funktion eines Palas hatte, stützt sich auf mehrere Befunde:
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Licht- und Wärmeführung: Der Palas ist in mittelalterlichen Burganlagen häufig auf der Süd- oder Ostseite angeordnet, da diese Himmelsrichtungen durch die Belichtung mit Morgen- und Vormittagssonne bevorzugt wurden. In Angern, wo der Hof nach Westen offenliegt, ist die Ostseite der Hauptburg für einen repräsentativen Saalbau gut geeignet, da sie durch die direkte Nachbarschaft zum Bergfried eine symbolische Verstärkung erhält.
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Zugangssituation: Der Zugang zur Hauptburg erfolgte im Süden über eine schmale Brücke vom Bergfried her, die laut Auswertung der Fundamente und Mauerzüge auf Höhe des ersten Obergeschosses in das Mauerwerk der Hauptburg mündete. Dies legt nahe, dass der Hauptzugang zur Ostseite – und damit zum Palas – nicht ebenerdig, sondern über eine erhöhte Plattform erfolgte, was typisch für spätmittelalterliche Saalbauten mit Schutzfunktion ist.
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Baustruktur: Der Bau selbst dürfte sich aus einem massiven Sockelgeschoss aus Bruchsteinmauerwerk und einem darüber liegenden Fachwerkgeschoss zusammengesetzt haben. Diese zweigeschossige Konstruktion ist in vergleichbaren Anlagen der Region (vgl. Salzwedel, Burg Beetzendorf) für die Zeit zwischen dem 14. und frühen 16. Jahrhundert belegt. Der untere Baukörper war vermutlich tonnengewölbt oder flach gedeckt und diente als Lager- oder Küchentrakt. Das darüber liegende Obergeschoss war dem Aufenthalt vorbehalten und könnte einen großen, einräumigen Palasraum umfasst haben.
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Innenarchitektur (rekonstruiert): Der Saal war vermutlich durch eine offene Balkendecke oder eine frühgotische Sparrendachkonstruktion überspannt. Kassettendecken oder stuckierte Vouten, wie sie später im Barockinventar von 1739 genannt werden, sind für das Mittelalter nicht anzunehmen. Die Wände waren vermutlich verputzt und eventuell im Bereich des Dais (der Ehrentribüne) mit gemalten Friesen oder Tüchern geschmückt. Ein gemauerter Kamin, wie er für mittelalterliche Palasräume ab dem 14. Jahrhundert zunehmend üblich war, wäre an der Außenwand Richtung Osten oder zur Hoffassade hin denkbar.
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Fensterstruktur: Die Fenster im Obergeschoss der Ostseite waren größer als die Schießscharten des Erdgeschosses, aber noch keine modernen Glasfenster. Wahrscheinlich handelte es sich um zweibahnige Öffnungen, die mit Horn, Pergament oder dünner Ölhaut (in wohlhabenderen Fällen mit Butzenscheiben) verschlossen waren. Die Fenster waren meist mit hölzernen Läden versehen, deren Funktion sowohl Lichtregulation als auch Verteidigung diente.
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Nutzung und Symbolik: Als Palas war dieser Bau nicht nur Wohnraum des Burgherren, sondern auch Verhandlungs- und Repräsentationsort. Hier wurden Urkunden erstellt, Gäste empfangen und Gericht gehalten. Die Nähe zum Bergfried verstärkt diese Rolle symbolisch: Während der Turm Schutz bot, war der Saal der Ort der Ordnung, Gastfreundschaft und Verwaltung.
Fazit
Die Ostseite der Hauptburg von Angern war im Mittelalter mit hoher Wahrscheinlichkeit der Standort des Palas – des zentralen Saalbaus mit herrschaftlicher Funktion. Die bauliche Nähe zum Bergfried, die Höhenlage des Zugangs sowie die architektonischen und funktionalen Indizien sprechen für eine differenzierte Nutzung dieses Flügels. Im Zusammenspiel von Wehrhaftigkeit, Repräsentation und Verwaltung manifestiert sich hier das Selbstverständnis einer spätmittelalterlichen Adelsburg als Herrschafts- und Lebensraum zugleich.