Charakterstudie: Sigurd Graf von der Schulenburg-Angern (nach 1945). Sigurd Graf von der Schulenburg, letzter Herr auf Schloss Angern vor der Enteignung 1945, begegnet uns in seinem Tagebuch nicht als historisch distanzierter Beobachter, sondern als zutiefst geprägter Mensch einer untergehenden Welt. Aus jedem Eintrag spricht ein hoher Grad an Verantwortungsbewusstsein, Ordnungssinn und Selbstdisziplin – ein Charakterzug, der sich in der minutiösen Erfassung von Wetter, Gartenarbeiten, Lesestoff und Gesprächen ebenso zeigt wie im nie versiegenden Pflichtgefühl gegenüber Haus, Familie und Tradition. In psychologischer Hinsicht verweist dies auf eine ausgeprägt hohe Gewissenhaftigkeit, die in der aristokratischen Selbstverpflichtung wurzelt, Haltung zu bewahren – auch dann, wenn alles andere zerbricht.
Die Tagebuchaufzeichnungen von Sigurd Graf von der Schulenburg-Angern bieten ein eindrucksvolles Zeugnis aristokratischer Identität im Angesicht radikaler gesellschaftlicher Umbrüche. Der Autor dokumentiert den Verlust von Besitz, sozialem Status und kulturellem Einfluss mit einer Haltung, die sowohl von religiöser Standhaftigkeit als auch von preußisch geprägter Pflichterfüllung durchdrungen ist. Eine psychologische Betrachtung seiner Person anhand des Big-Five-Modells erlaubt eine differenzierte Annäherung an sein Selbstbild und seine Weltbeziehung.
Im Merkmal der Gewissenhaftigkeit zeigt sich Sigurd von der Schulenburg in äußerstem Maße ausgeprägt. Seine disziplinierte Tagebuchführung, die detaillierte Protokollierung alltäglicher Vorgänge und seine kontinuierliche geistige Selbstvergewisserung – etwa durch Bibellektüre, Ordnung im Archiv oder Pflege der Gartenanlagen – verweisen auf ein rigides Pflichtethos. Dieses Pflichtbewusstsein steht exemplarisch für das Selbstverständnis eines konservativen Landadels, dessen Autorität sich weniger aus gegenwärtiger Macht als aus historischer Kontinuität speist.
Auch im Merkmal der Offenheit für Erfahrungen lassen sich deutlich positive Ausprägungen erkennen, wenngleich innerhalb eines ideologisch und weltanschaulich klar abgegrenzten Rahmens. Die intensive Auseinandersetzung mit Literatur (Hebbel, Chamberlain), Philosophie und Musik zeugt von kulturellem Tiefgang. Gleichwohl bleiben seine Urteile konservativ gefiltert: Offenheit für Neues ist stets gebunden an das Bewährte, Erprobte, moralisch Vertretbare.
Die Extraversion des Tagebuchautors ist vergleichsweise gering ausgeprägt. Sigurd bevorzugt den intimen Kreis, meidet große gesellschaftliche Ereignisse und zeigt sich in seinem Ausdruck eher introvertiert. Seine Kontakte beschränken sich auf vertraute Bezugspersonen – Familienangehörige, den Pastor, den Verwalter – und finden bevorzugt im geschützten Raum des Hauses oder Gartens statt. Diese soziale Zurückhaltung dürfte nicht allein Temperamentsache sein, sondern auch Folge der politischen Entwurzelung und eines grundsätzlichen Misstrauens gegenüber der neuen Gesellschaftsordnung.
Im Bereich der Verträglichkeit zeigt sich ein ambivalentes Bild: Während Sigurd im familiären Kontext liebevoll, loyal und mitfühlend agiert, ist sein öffentliches Urteil hart, oft abwertend. Gegenüber den Vertretern des kommunistischen Systems, aber auch gegenüber opportunistischen Mitbürgern, äußert er sich mitunter verächtlich. Sein Gerechtigkeitssinn ist stark, doch seine Nachsicht begrenzt. Die moralische Polarisierung – "anständig" oder "verkommen" – lässt wenig Raum für Vermittlung.
Die fünfte Dimension, der Neurotizismus, ist in seinen Tagebüchern moderat bis hoch ausgeprägt. Schulenburg schildert eigene Ängste, Verzweiflung und Krankheit mit einer Mischung aus emotionaler Tiefe und spiritueller Sublimierung. Die Erkrankung seiner Tochter Sigrid oder der Verlust des Gutes erscheinen nicht als bloße äußere Katastrophen, sondern als innere Bewährungsproben. Seine Form der Emotionsverarbeitung ist religiös grundiert, ritualisiert und kontrolliert – doch die affektive Erschütterung bleibt spürbar.
Insgesamt zeigt sich Sigurd Graf von der Schulenburg als ein Charakter von hoher Integrität, geistiger Tiefe und moralischer Stringenz. Seine Haltung ist geprägt von Widerstand gegen den Zerfall, nicht durch Kampf, sondern durch Gedächtnis, Ordnung und religiösen Sinn. In der Katastrophe bleibt er ein Vertreter seines Standes, nicht durch Besitz, sondern durch Haltung.