Helene von der Schulenburg im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71). Der Krieg im Tagebuch einer Frau. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 bildet in den Tagebüchern Helene von der Schulenburgs eine außergewöhnliche thematische Verdichtung. Über mehrere Monate hinweg verzeichnet sie Eindrücke, Begegnungen, Ängste, Erschöpfungszustände und Beobachtungen, die in dieser Form weit über das hinausgehen, was sich sonst an Subjektivität in ihren Aufzeichnungen findet.
Dabei bleibt sie ihrer typischen Form treu: keine Selbstinszenierung, keine pathetischen Ausbrüche, keine politischen Urteile. Und doch zeigt sich in diesen Notizen eine außergewöhnliche Nähe zum Kriegsgeschehen – nicht als Beobachterin, sondern als handelnde, mitfühlende, pflegende Frau.
Helene hält sich während der entscheidenden Kriegsmonate in Versailles auf, im Gefolge ihres Mannes Edo von der Schulenburg. Sie wohnt in einem französischen Haus in der Rue de la Pompe, versorgt Verwundete, organisiert Verpflegung, begleitet Beerdigungen und dokumentiert die tiefgreifenden Veränderungen des Alltags durch Besatzung, Hunger, Krankheit und Tod.
Alltag unter Kriegsbedingungen: Versailles 1870/71
Der Deutsch-Französische Krieg (1870–1871) war ein militärischer Konflikt zwischen dem Norddeutschen Bund unter preußischer Führung und dem Kaiserreich Frankreich. Die Ursachen lagen in der spanischen Thronkandidatur eines Hohenzollernprinzen und in der strategischen Rivalität zwischen Frankreich und Preußen. Nach dem Ausbruch am 19. Juli 1870 rückten deutsche Truppen schnell in französisches Gebiet vor; Paris wurde im September eingeschlossen. Das Schloss Versailles wurde daraufhin zum politischen und militärischen Zentrum des deutschen Bündnisses: Seit 6. Oktober 1870 residierte König Wilhelm I. dort, begleitet von seinem Stab, Kronprinz Friedrich Wilhelm, Generalstabschef Helmuth von Moltke und Reichskanzler Otto von Bismarck. Das Schloss diente als strategisches und zeremonielles Zentrum, hier fand am 18. Januar 1871 die Proklamation Kaiser Wilhelms I. im Spiegelsaal statt, während die militärische Führung direkt vor Ort tagte.
Teil der höfisch-militärischen Führungsschicht
Edo Friedrich Christoph Daniel von der Schulenburg (1816–1904) war zu dieser Zeit 54 Jahre alt. Er gehörte als Angehöriger des altmärkischen Uradels zur höheren Schicht des preußischen Hofadels mit engem Bezug zu Militär und Verwaltung. Seine Ehefrau, Helene von der Schulenburg, geb. von Schöning, war Tochter des preußischen Hofmarschalls Kurd von Schöning und verfügte selbst über weitreichende Verbindungen zum Hof.
Edos Anwesenheit in Versailles ist weder zufällig noch militärisch-funktional im engeren Sinn. Vielmehr war er Teil jener informellen Begleitung des Hofes, die während des Krieges in Versailles stationiert war – nicht in Uniform, aber als Teil des höfischen Ordnungs- und Versorgungssystems. Die Schulenburgs bewohnten ein beschlagnahmtes Privathaus in Versailles, waren nicht kaserniert, sondern standesgemäß untergebracht, und nahmen an Empfängen, Soupées und gelegentlichen Missionsdiensten teil. Die Einbindung Helenes in die Versorgung Verwundeter und die Seelsorge in Lazaretten ist durch zahlreiche Einträge belegt – Edos Rolle war dabei repräsentativ, unterstützend, kontrollierend, nicht aktiv im Sanitätsdienst.
„5. Dezember. Soupé für Hauptmann F. organisiert. Viel Wein, kaum Brot. Lazarett am Abend: kalte Flure, zwei Sterbefälle. Psalm 90.“
„8. Januar. Edo mit Berghaus bei General B. Rückkehr spät. Viel über die Zustände in der Rue de Paris gesprochen.“
Diese Einträge deuten auf Edos gesellschaftliche Vermittlerrolle: Gespräche mit Offizieren, Besuche bei Kommandeuren, Teilnahme an planenden Abendgesellschaften – eine Form von informeller Kriegspräsenz, wie sie für ältere adlige Herren seiner Stellung typisch war. Edo gehörte nicht zur kämpfenden Truppe, aber er war Teil des Netzes von Legitimation, Kontrolle und Symbolik, das den Krieg auch auf sozialer Ebene trug.
Helene lebte dort unter improvisierten Bedingungen, in einem beschlagnahmten französischen Wohnhaus, in unmittelbarer Nähe zum Lazarettbetrieb. So notiert sie am 14. Oktober 1870:
„Seit Tagen kränkelnd. Wenig Suppe, kein Brot. Die Verwundeten aus Meudon werden täglich mehr. Gestern zwei Tode in der Kapelle.“
Dieser Eintrag bündelt mehrere Realitätsebenen des Kriegsalltags: eigene körperliche Erschöpfung, materielle Not, eine überfüllte Lazarettstruktur – und die Nähe zu Sterben und Bestattung. Der Bezug zur Kapelle markiert zugleich einen geistlichen Fixpunkt: Helene agiert in einem Raum, in dem Tod, Gebet und Pflege räumlich verschränkt sind.
Hofnähe in Versailles – Die informelle Präsenz der Adligen
Die Anwesenheit Helenes in Versailles ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer gesellschaftlich legitimierten Rollenfunktion: In unmittelbarer Nähe zum Hofstaat und zu militärischen Kommandoebenen bewegten sich zahlreiche Adelige – insbesondere Frauen –, die keine offizielle Rolle einnahmen, aber Verantwortung im Zwischenraum von Öffentlichkeit und Familie übernahmen.
„5. Dezember. Soupé für Hauptmann F. organisiert. Viel Wein, kaum Brot. Lazarett am Abend: kalte Flure, zwei Sterbefälle. Psalm 90.“
Solche Einträge lassen deutlich erkennen: Helene ist nicht Teil einer organisierten Pflegeeinheit wie die Diakonissen oder das Rote Kreuz. Ihre Handlung beruht auf standesgemäßer Pflicht, nicht auf formaler Anweisung. Sie organisiert Essen, betreut Offiziere, übernimmt Sterbebegleitung – nicht systematisch, aber mit stiller Selbstverständlichkeit. Die Bezugnahme auf den Psalm 90 („Herr, du bist unsere Zuflucht für und für“) zeigt, wie sehr ihre Fürsorge mit einer spirituellen Ordnung verbunden ist. Pflege ist für sie kein Ausdruck sentimentaler Empathie, sondern ein Akt der Haltung und des liturgischen Rahmens. In der Welt von Versailles 1870/71 war dies eine tragende, wenn auch offiziell nicht verzeichnete Instanz weiblicher Gegenmacht: Helene handelt nicht anstelle der Militärs, sondern in den Lücken ihrer Systeme – dort, wo Ordnung, Nahrung und Trost fehlen.
Helfende Rolle: Pflege, Fürsorge und Seelsorge
Auch wenn Helene sich nicht selbst als Krankenschwester bezeichnet, so nimmt sie doch eindeutig eine helfende Rolle ein. Sie begleitet Verwundete, reicht Essen, sorgt für Decken und spricht mit Soldaten. Am 28. November 1870 schreibt sie:
„Der kleine H. weinte in der Nacht. Ich saß lange bei ihm. Wunde eitert wieder. L. brachte endlich warmes Wasser.“
Dieser Eintrag zeigt eindrücklich eine fürsorgliche Nähe, wie sie für adlige Frauen mit Pflegeaufgaben typisch wurde – vergleichbar mit dem, was die Forschung später unter „privater Kriegsbeteiligung“ oder „weiblicher Kriegsbegleitung“ fassen wird. Helenes Verhalten bleibt dabei durchdrungen von Disziplin, Pflicht und Mitmenschlichkeit – ganz im Sinne der protestantischen Ethik ihres Standes.
Struktur und Ordnung in der Ausnahmezeit
Trotz der kriegsbedingten Ausnahmesituation bemüht sich Helene um Ordnung – geistlich wie praktisch. Sie notiert Gottesdienste, Gebete, Todestage, Wetterlagen, Essensrationen, Gäste. Selbst unter den Bedingungen von Hunger, Erschöpfung und seelischer Belastung bleibt ihr Schreiben strukturiert. Am 3. Dezember 1870 heißt es:
„Psalm 27,1: Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten?“ (Kontext: zunehmender Beschuss von Paris, Kälte und Lebensmittelmangel)
Dieser Vers ist kein Ornament. Er ist Widerstand gegen die Angst, Orientierung inmitten äußerer Instabilität. Für Helene bedeutet Religion nicht Rückzug, sondern Handlungsmöglichkeit – geistige Ordnung gegen das Chaos der Welt.
Nähe zu Sterben und Tod
Nie zuvor und nie danach erwähnt Helene so viele Verstorbene in so kurzer Zeit wie im Winter 1870/71. Sie dokumentiert Todeszeitpunkte, Namen, Herkunft, letzte Worte. Teilweise ist sie bei Sterbenden anwesend. Am 11. Januar 1871 schreibt sie:
„Begräbnis von Sergeant W. Schnee lag auf dem Tuch. Psalm 90 gelesen. Edo sprach das Vaterunser.“
Hier wird sichtbar, wie sehr religiöse Rituale und persönliche Verantwortung ineinandergreifen. Helene und ihr Mann übernehmen eine seelsorgerliche Funktion – nicht institutionell, sondern familiär, adlig, präsent. Der Tod ist nicht fremd, sondern Teil des gelebten Alltags.
Frauen im Deutsch-Französischen Krieg – Zwischen Pflege und Pflicht
Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 traten Frauen erstmals in größerem Umfang als organisierte Helferinnen in Erscheinung. Vor allem durch die Initiative des Roten Kreuzes, das 1864 gegründet und vom preußischen Kriegsministerium unterstützt wurde, entstanden zahlreiche sogenannte „Vaterländische Frauenvereine“. Diese organisierten Lazarettzüge, Verpflegungsspenden und Pflegeunterstützung.
Helene von der Schulenburg war nicht Teil eines Vereins, doch ihr Verhalten vor Ort in Versailles entspricht typologisch genau diesen Mustern: Versorgung Verwundeter, Beschaffung von Wäsche und Suppe, Begleitung von Sterbenden. Ihre adlige Herkunft verlieh ihr Zugang zu Räumen und Aufgaben, die dem einfachen Pflegepersonal verschlossen blieben – etwa die Anwesenheit bei Offizieren oder die Leitung kleiner häuslicher Lazarette.
Ihre Funktion kann daher als informelle Sanitätshelferin innerhalb des adeligen Milieus verstanden werden – mit geistlicher, sozialer und logistischer Verantwortung. Anders als viele bürgerliche Frauen reflektiert sie diese Rolle nicht theoretisch, sondern lebt sie selbstverständlich als Ausdruck ihrer Standespflicht.
Stand und Religion – Das Selbstverständnis der helfenden Adligen
Helenes Verhalten während des Krieges lässt sich nicht isoliert als mitmenschliche Fürsorge deuten. Vielmehr folgt sie einer inneren Verpflichtung, die aus der Verbindung von adligem Ethos und lutherischem Pflichtdenken resultiert. Im Protestantismus des 19. Jahrhunderts – insbesondere im preußischen Pietismus – galt die Hilfe am Nächsten nicht nur als Akt der Barmherzigkeit, sondern als Bestandteil des Gottesdienstes im Alltag (Gottesdienst im Leben). Ein Tagebucheintrag vom 3. Dezember 1870 lautet:
„Psalm 27,1: Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten?“ (aus Versailles, im Winter 1870)
Solche Einträge zeigen, dass Helene ihre Tätigkeit nicht als freiwillige Leistung, sondern als fromme Selbstverständlichkeit begreift. Der Tod wird nicht dramatisiert, sondern mit Liturgie und Bibelversen eingerahmt. Diese Haltung ist nicht privat, sondern Teil einer kollektiven Moralordnung des Adels, in der christliche Pflicht, Standesehre und weibliche Fürsorge untrennbar miteinander verbunden sind.
Erinnerung und Nachwirkung – Der Krieg im Gedächtnis der Helene von der Schulenburg
Auffällig ist, dass Helene nach dem Friedensschluss im Frühjahr 1871 die Kriegszeit weiterhin in liturgischer Form erinnert. Jahrestage von Gefallenen, Psalmverse, Erinnerungen an kalte Nächte oder Sterbebegleitung finden sich noch Jahre später in ihren Einträgen – stets knapp, aber regelmäßig.
„14. Januar. Heute vor drei Jahren starb Leutnant W. in unserem Zimmer in Versailles. Psalm 90.“ (späterer Tagebucheintrag, datierbar auf 1874)
„3. März. Kälte wie damals in Versailles. Schweigen.“
Diese Form der Erinnerung ist kein Versuch, Trauma zu verarbeiten – vielmehr handelt es sich um eine ritualisierte Gedächtnisarbeit, wie sie typisch für das adlige Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts war. Der Krieg wird nicht moralisch bewertet, sondern eingeordnet in eine Ordnung von Pflicht, Opfer und Ewigkeit. In dieser Struktur liegt ein wesentlicher Unterschied zu modernen Kriegserinnerungen: Helene verklärt nichts, klagt nichts an, sondern bewahrt – nüchtern, liturgisch, verbindlich. In ihrem Tagebuch wird der Krieg so Teil des geistlichen und familiären Kalenders.
Schlussbetrachtung
Der Abschnitt des Tagebuchs von 1870/71 ist mehr als eine Chronik des Krieges. Er ist ein stilles Zeugnis weiblicher Stärke, protestantischer Pflichterfüllung und gelebter Mitmenschlichkeit im Angesicht von Not, Verwundung und Tod. Helene von der Schulenburg war keine offizielle Krankenschwester, keine politische Stimme, keine Heldin im öffentlichen Sinn. Aber sie war – und das zeigen ihre Aufzeichnungen unmissverständlich – eine der vielen Frauen, die den Krieg getragen haben, ohne ihn zu führen. In der Summe ergibt sich ein Bild adliger Kriegsbeteiligung jenseits des Schlachtfelds: präsent, helfend, erinnernd. In diesem Sinne ist das Tagebuch nicht nur ein Selbstzeugnis – sondern auch ein kulturelles Dokument weiblicher Handlungsmacht im Schatten des Krieges.