Selbst als Struktur: Psychologische Typisierung Helene von der Schulenburgs nach dem Big-Five-Modell. Tagebücher bieten selten direkte Einblicke in die Persönlichkeit ihrer Verfasser – doch in ihrer Struktur, Reduktion und Wiederholung lassen sich klare psychologische Muster erkennen. Im Fall von Helene Gräfin von der Schulenburg (geb. von Schöning) wird ein Persönlichkeitsprofil sichtbar, das nicht über Emotionen spricht, sondern in sprachlicher Disziplin und sozialer Integrität aufscheint.
Zur psychologischen Einordnung eignet sich insbesondere das Big-Five-Modell (OCEAN), das fünf Grunddimensionen der Persönlichkeit beschreibt: Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Dieses Modell lässt sich – bei textnaher Vorsicht – auch auf historische Selbstzeugnisse anwenden.
Emotionale Stabilität: Abwesenheit von Affekt als Haltung
Neurotizismus beschreibt im Big-Five-Modell die Neigung zu emotionaler Labilität, Ängstlichkeit oder Reizbarkeit. In Helenes Tagebuch fehlt jede Spur davon. Sie erlebt Tod, Verwundung, Isolation, Krankheit – aber äußert keine Angst, keine Wut, kein Bedauern. Die Abwesenheit emotionaler Sprache ist keine Leere, sondern ein Zeichen innerer Selbstführung. Ihre Reaktion auf den Tod ist Psalmlesung, nicht Klage. Ihre Reaktion auf Kälte: Organisation, nicht Beschwerde.
„5. Dezember. Kalte Flure. Zwei Sterbefälle. Psalm 90.“
Diese Gelassenheit ist kein Indiz für Gefühllosigkeit, sondern Ausdruck eines ritualisierten Umgangs mit Belastung, wie er in protestantischen, adligen Milieus normativ war. Helenes emotionale Stabilität ist nicht Temperamentszug, sondern soziale Form.
Gewissenhaftigkeit: Struktur als Lebensmodus
Helene schreibt regelmäßig, geordnet, in stets ähnlicher Syntax. Sie hält Daten fest, folgt liturgischen Zyklen, markiert Gedenktage – ohne Auslassung. Solche Regelmäßigkeit weist auf eine hohe Ausprägung von Gewissenhaftigkeit im Sinne des Big-Five-Modells hin: Pflichtgefühl, Selbstdisziplin, Strukturorientierung.
„14. Januar. Heute vor drei Jahren starb Ltn. W. Psalm 90.“
Die Jahreszyklen ihrer Erinnerung, das Festhalten an religiösen Ritualen, die präzise Notierung sozialer Ereignisse (Logenplätze, Soupées, Liturgien) zeigen ein Selbst, das Sicherheit durch Ordnung sucht und gibt. Ihre Verlässlichkeit ist nicht Funktion, sondern Charakter.
Extraversion: Distanzierte Öffentlichkeit
In Helenes Tagebuch finden sich kaum Ich-Aussagen, keine Dialoge, keine Ausschmückungen. Das spricht für eine niedrige Extraversion im Sinne des Big-Five-Modells: geringe Geselligkeit, keine emotionale Außenwirkung, keine Suche nach Stimulus oder Aufmerksamkeit. Gleichwohl ist sie hochgradig sozial eingebunden – sie besucht Theater, Bälle, Familienfeste –, jedoch nicht als Selbstdarstellerin, sondern als Teil einer Ordnung. Ihre gesellschaftliche Präsenz ist funktional, nicht expressiv. Sie gehört dazu, weil sie dazugehört – nicht, weil sie es zeigen muss.
„28. Februar. Subscriptionsball im Hotel de Russie. Gedrängt, aber gut besetzt.“
Helene lebt Öffentlichkeit, ohne sich in ihr zu spiegeln.
Verträglichkeit: Pflege durch Handlung
Während des Deutsch-Französischen Krieges begleitet Helene Verwundete, organisiert Suppe, liest Psalmen für Sterbende – ruhig, regelmäßig, kommentarlos. Diese Form der Fürsorge spricht für eine hohe Ausprägung von Verträglichkeit: Wärme, Pflicht gegenüber anderen, Verlässlichkeit.
„14. Oktober. Wenig Suppe, kein Brot. Die Verwundeten aus Meudon werden täglich mehr.“
Ihre Fürsorge ist nicht emotional formuliert, aber verlässlich gelebt. Sie ist kein pflegender Typ im modernen psychologischen Sinn, sondern eine Figur der diskreten Verantwortung – präsent, ohne sichtbar sein zu wollen.
Offenheit für Erfahrung: Reduktion als Stärke
Die Kategorie „Offenheit für Erfahrung“ umfasst Neugier, Kreativität, intellektuelle Beweglichkeit. Helene wirkt hier reduziert: keine theoretischen Reflexionen, keine philosophischen Einschübe, keine Ästhetisierung. Doch diese scheinbar geringe Offenheit ist keine Einschränkung, sondern bewusste Form: Ihre Erfahrung liegt nicht in gedanklicher Ausweitung, sondern in gelebter Wiederholung. Ihre Texte sind verdichtete Erfahrung in ritueller Sprache – kein Denkraum, sondern ein Verhaltensraum.
Schluss: Eine stabilitätsorientierte Persönlichkeit
Helene von der Schulenburg verkörpert eine Persönlichkeitsstruktur, die in sich ruht, ohne sich darzustellen. Ihre psychologische Typisierung nach dem Big-Five-Modell ergibt ein emotional stabiles, hochgradig gewissenhaftes, verträgliches und sozial eingebundenes Selbst mit geringer Expressivität. Ihre Stärke liegt nicht in Introspektion, sondern in Handlung. Ihr Leben ist nicht Selbstentfaltung – sondern Selbstvergewisserung in Form und Pflicht.