Lehnsrecht und Besitzteilung am Beispiel von Angern: Zur Struktur schulenburgischer Herrschaft im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. Das Lehnswesen bildete über Jahrhunderte hinweg das rechtliche Rückgrat adliger Besitz- und Herrschaftsausübung. Am Beispiel des altmärkischen Guts Angern, das zum zentralen Besitzkomplex des sogenannten weißen Stammes der Familie von der Schulenburg gehörte, lässt sich die langfristige Wirkung lehnsrechtlicher Normen, vor allem der agnatisch organisierten Erbfolge, exemplarisch untersuchen.
Die folgenden Ausführungen zeigen, wie sich das Fehlen des Erstgeburtsrechts, das Prinzip der Gesamtbelehnung und die reale Nutzungsteilung in einem kontinuierlichen Prozess der Fragmentierung und dynastischen Ausdifferenzierung niederschlugen.
Einheitlicher Lehnbrief, geteilte Realität
Lehen waren rechtlich gebundene Herrschafts- und Nutzungsrechte, die durch einen Lehnsherrn – im Fall von Angern die askanischen oder später brandenburgisch-preußischen Landesherren – an Adelige verliehen wurden. Diese Rechte wurden formal in Lehnbriefen kodifiziert, die auf das „Haus von der Schulenburg“ oder das „gesamte Geschlecht“ ausgestellt waren. Solche Lehnbriefe betonten die Einheit des Besitzes, verschwiegen jedoch systematisch die faktischen Aufteilungen innerhalb des Familienverbandes. So entstand eine juristische Fassade, hinter der sich im Fall von Angern eine stetig zunehmende Besitzzersplitterung vollzog.
Der zentrale Mechanismus dieser Entwicklung lag im lehnsrechtlichen Erbprinzip, das in der Altmark keine Primogenitur, sondern eine Gleichstellung aller männlichen Agnaten kannte. Diese sogenannte Gesamthandbelehnung bedeutete, dass bei einem Erbfall alle Söhne eines Lehnsträgers – die „Leibeslehnerben“ – zu gleichen Teilen erbberechtigt waren. Nur wenn keine Söhne vorhanden waren, griff die zweite Ordnung der Agnaten (z. B. Brüder und Neffen) ein. Ab dem späten 16. Jahrhundert galt in der Altmark zudem das Lineal-Gradualsystem, bei dem Erben gleichen Grades innerhalb einer Linie Vorrang hatten und entferntere Verwandte (etwa Onkel gegenüber Neffen) ausgeschlossen waren.
Im Fall Angerns bedeutete dies, dass es immer wieder zu Besitzübergängen auf mehrere Personen gleichzeitig kam, ohne dass diese real geteilt oder verwaltungstechnisch entflechtet wurden. Die juristische Einheit des Lehens wurde zwar formal beibehalten, faktisch jedoch unterminiert
Agnatische Erbfolge und das Lehnerrecht
Der zentrale Mechanismus dieser Besitzzersplitterung war das Lehnerrecht, das in der Altmark bis ins 16. Jahrhundert hinein keine Bevorzugung des Erstgeborenen kannte. Stattdessen galt das Prinzip der Gleichbehandlung aller männlichen Agnaten. Die „Leibeslehnerben“ – also die Söhne eines Lehnsinhabers – wurden zu gleichen Teilen belehnt. Kam es in einer Generation zu keiner Erbfolge aus direkter männlicher Linie, so traten die Brüder des Verstorbenen und deren Nachkommen ein (Erben zweiter Ordnung). Diese Praxis führte dazu, dass Besitz nicht in einer Hand konsolidiert, sondern bruchteilig weitergegeben wurde.
In der Altmark setzte sich spätestens ab dem späten 16. Jahrhundert das sogenannte Lineal-Gradualsystem durch. Es regelte, dass nur Agnaten gleicher Linie und gleichen Grades erben konnten, was entfernte Verwandte vom Zugriff ausschloss. Für Angern bedeutete das, dass in bestimmten Fällen eine Erbfolge auf Cousins oder Neffen verhindert wurde, wenn Brüder oder gleichgradige Verwandte vorhanden waren. Für magdeburgische Lehen galt diese Regelung jedoch nur dann, wenn sie ausdrücklich in den Lehnbriefen als „Erbfolge nach rechter Sippzahl“ formuliert war – was bei Angern nicht durchgängig der Fall war.
Reale Teilung der Nutzungen
Die praktische Folge dieser Erbregelung war eine feingliedrige Nutzungsteilung, die spätestens ab dem 15. Jahrhundert für Angern greifbar wird. Schon bei der ersten großen Realteilung im Jahr 1340 – damals bezogen auf Beetzendorf – kam es zu einer expliziten Auseinandersetzung über zugehörige Lehnstücke. Für Angern ist zwar kein vergleichbares Datum überliefert, doch die Quelle nennt ausdrücklich, dass das Gut nach ähnlichen Grundsätzen wiederholt geteilt wurde.
Diese Teilungen betrafen nicht nur den Bodenbesitz im engeren Sinn, sondern auch Hebungen, Rechte an Afterlehen, Zehnten, Waldnutzung, Schäfereien und Mühlenrechte. So konnten etwa einem Familienzweig bestimmte Anteile an den Waldungen zustehen, während ein anderer die Einkünfte eines bestimmten Schulzenhofs beanspruchte. Selbst wenn kein neuer Lehnbrief ausgestellt wurde, entstanden durch diese Nutzungsverträge und Erbauslosungen de facto eigenständige Besitzkomplexe, die jedoch juristisch an das Gesamtlehen rückgebunden blieben.
Ein klassisches Beispiel sind die in der Quelle erwähnten Schulzenhöfe und Afterlehen, die am 21. Dezember 1444 zwischen den beiden Stämmen geteilt wurden. Diese Teilung war nicht abschließend: In der Folge kam es innerhalb des weißen Stammes zu weiteren Auseinandersetzungen unter den Linien Beetzendorf, Angern und Apenburg. Für Angern bedeutet das: Der Besitz wurde auf einzelne Linienmitglieder real aufgeteilt, die Verwaltungs- und Ertragsverhältnisse jedoch blieben oftmals gemeinschaftlich, was Konfliktpotenzial barg.
Folgen der Teilung: Fragmentierung und dynastische Verästelung
Im 16. Jahrhundert war der Besitzkomplex Angern – wie andere Güter des weißen Stammes – bereits stark fragmentiert. Bei jedem weiteren Erbfall zerfiel die Einheit noch weiter, da wiederum alle männlichen Nachkommen belehnt wurden. Da es sich bei Angern um einen seit dem Spätmittelalter beständig zum Kernbestand gehörenden Besitz handelte, war es besonders stark von dieser Entwicklung betroffen. Im Unterschied zu später erworbenen Gütern, die teils nur von einzelnen Linien genutzt wurden (und daher eine geringere Zahl von Erbberechtigten aufwiesen), blieb Angern ein gemeinschaftlich beanspruchtes Lehen – was sowohl Verwaltungsaufwand als auch internen Abstimmungsbedarf erhöhte.
Die Fragmentierung des Besitzes hatte zwei gegenläufige Effekte: Einerseits wurde innerfamiliärer Wettbewerb gefördert, etwa um Verwaltungsrechte, Einkünfte oder Investitionen. Andererseits bewirkte sie eine starke genealogische Kohärenz, da kein Zweig sich vollständig abkoppeln konnte, ohne auch seine Ansprüche aufzugeben.
Angesichts der zunehmenden Verästelung und Zersplitterung verfolgten einige Mitglieder des Hauses von der Schulenburg im 17. und 18. Jahrhundert gezielt die Wiederzusammenführung von Anteilen. Für Angern ist dies insbesondere durch Christoph Daniel von der Schulenburg im 18. Jahrhundert dokumentiert, der durch gezielte Käufe und Transaktionen die zerstreuten Erbteile konsolidieren konnte.
Lehnsstruktur und soziale Abhängigkeit der Landbevölkerung
Im Rahmen des Lehnswesens erstreckten sich die Herrschafts- und Besitzverhältnisse nicht nur auf den Adel, sondern prägten auch das Leben der bäuerlichen Unterschichten, insbesondere der Kossaten, Häusler und Erbpächter. Diese Gruppen erhielten keine eigentlichen Lehen, sondern wurden durch sogenannte Afterlehen oder Erbpachtverhältnisse in das grundherrliche System eingebunden. Dabei blieb das Eigentum formal beim Lehnsherrn, während die Nutzung – etwa eines Kossatenhofs auf dem Gut Angern – gegen regelmäßige Gegenleistungen überlassen wurde. Diese bestanden aus Natural- oder Geldabgaben sowie aus Arbeitsdiensten wie Fron, Erntehilfe oder Bauleistungen.
Die Lehnsherrschaft verlangte also keine militärische Gefolgschaft wie bei adeligen Vasallen, sondern wirtschaftliche Verfügbarkeit. Im Gegenzug gewährte sie Schutz und rechtlich gesicherte Nutzung – allerdings unter Vorbehalt weitreichender herrschaftlicher Eingriffsrechte. Die daraus entstehenden Verhältnisse waren asymmetrisch: Sie boten der Landbevölkerung eine gewisse Existenzsicherung, banden sie jedoch zugleich dauerhaft in ein System struktureller Abhängigkeit. Heiratsfreiheit, Erbregelungen und Mobilität konnten durch den Lehnsherrn eingeschränkt werden. So wurde das Lehnswesen zur Grundlage nicht nur adeliger Macht, sondern auch dörflicher Sozialdisziplinierung und ökonomischer Kontrolle über nachgeordnete Bevölkerungsschichten.
Lehnsähnliche Abgabenordnung und Grundherrschaft auf dem Gut Angern im 18. Jahrhundert
Im Einnahmen- und Gerichtsprotokoll des Gutsarchivs Angern (Rep. H Nr. 79) wird die ökonomische Abhängigkeitsstruktur der Kossaten und Häusler unter dem frühneuzeitlichen Gutsherrn präzise dokumentiert. So heißt es, dass
„die jährlichen Pachtzinsen und sonstige obrigkeitliche Gefälle zu rechter und gesetzter Zeit, spätestens zwischen Martini und Weihnachten oder auf das allerhöchste auf Lichtmessen, entrichtet“
werden müssen – andernfalls drohe Strafe durch das Gericht. Auch soziale Bewegungen unterlagen finanziellen Hürden: Beim Wegzug waren feste Abgaben fällig – „1 Thaler von einem Ackermann, 12 Groschen von einem Kossaten“. Umgekehrt mussten Zuziehende „2 Thaler, wenn sie ganze Kossaten, 1 Thaler, wenn sie halbe Kossaten oder Häusler sind“, an die Gerichtsherrschaft zahlen.
Eine besonders aufschlussreiche Bestätigung der lehnsähnlichen Besitzverhältnisse liefert ein Dorfartikel aus Rep. H Angern Nr. 139, in dem Christoph Daniel von der Schulenburg ausdrücklich anordnet, dass alle Inhaber von „Laß-, Erben- oder anderen Zinsgütern“ sich bei seinen Gerichten zu melden,
„die alten Lehnbriefe und Urkunden vorzeigen und wegen versäumter Lehnfalle und unterlassener Entrichtung der schuldigen Lehnwehre“
mit dem Gericht abzufinden hätten. Auch die Zahlung sogenannter „Erbegelder“ wird verlangt – ein typischer Hinweis auf erblich übertragene, aber herrschaftlich genehmigungspflichtige Besitzrechte. Sogar bauliche Maßnahmen unterlagen der Kontrolle:
„Ein jeder, welcher neu anbauet, soll sein Haus, Stall und Scheune auf die ihm angegebene Stelle setzen […] das Dach mit Ziegelsteinen gehörig belegen lassen“.
Diese Regelungen belegen ein dichtes Netz von finanziellen, sozialen und rechtlichen Pflichten, das auf eine lokale Fortführung feudaler Strukturen im Gewand frühneuzeitlicher Gutsherrschaft verweist. Zwar trugen die Untertanen keine militärischen Leistungen mehr wie klassische Vasallen, doch ihre wirtschaftliche, räumliche und soziale Bewegungsfreiheit blieb in hohem Maße eingeschränkt. Besitznutzung, Mobilität und Erbfolge waren dauerhaft an die Zustimmung und Abgabenpflicht gegenüber dem Gutsherrn gebunden – eine Struktur, die in ihren Grundzügen dem Lehnssystem des Hochmittelalters verpflichtet blieb.
Das Lehnswesen – Erfolgsmodell auf Zeit
Das Lehnswesen hat sich in seiner historischen Zeit bewährt, insbesondere im Hochmittelalter: Es diente effektiv der Herrschaftsorganisation, Bindung des Adels und Sicherung von Landbesitz. Für Familien wie die von der Schulenburg schuf es langfristige dynastische Strukturen. Ab dem Spätmittelalter zeigten sich jedoch zunehmende Schwächen: Besitz zersplitterte, Verwaltung wurde komplizierter, wirtschaftliche Effizienz sank – wie exemplarisch am Gut Angern sichtbar.
In der Neuzeit wurde das Lehnswesen schließlich als überholt und hinderlich betrachtet und im Zuge von Reformen abgeschafft. Spätestens ab dem 17. Jahrhundert wurde deutlich, dass das Lehnswesen als Ordnungsmodell an seine Grenzen stieß: Es war nicht mehr kompatibel mit den Anforderungen moderner Staatlichkeit, zentralisierter Verwaltung und wirtschaftlicher Entwicklung. Besitzstruktur, Erbfolge und Entscheidungsfindung waren durch das Lehnsrecht oft veraltet, blockierend oder konfliktträchtig. Infolgedessen wurde das Lehnssystem in den meisten Territorien im Zuge von Aufklärung, Reformbewegungen und der Entstehung moderner Eigentumsrechte zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert schrittweise abgeschafft.
Der tiefgreifende Wandel vom lehnsrechtlich gebundenen Grundbesitz zur modernen Eigentumsordnung begann nicht abrupt, sondern vollzog sich in mehreren Etappen – eine Schlüsselphase bildet dabei das 18. Jahrhundert unter der Regierung Friedrichs II. von Preußen. Obwohl das Lehnssystem formal fortbestand, forcierte Friedrich gezielt dessen Pragmatikalisierung: Er nutzte die traditionellen Lehnstrukturen zur Sicherung des Adels als militärisch und administrativ brauchbare Stütze, förderte zugleich aber die Verrechtlichung und Verschriftlichung von Eigentumsansprüchen. Die Einführung des Allgemeinen Landrechts von 1794 – vorbereitet durch zahlreiche Kabinettsorder – markierte einen entscheidenden Schritt in Richtung kodifizierter, staatlich kontrollierter Eigentumsrechte. Während Lehnspflichten wie Frondienste und Naturalabgaben noch praktiziert wurden, verloren sie zunehmend ihren personalen, willkürlichen Charakter und wurden in feste Renten und Registraturakten überführt. In der Praxis führte dies zu einer Verwischung der Grenze zwischen Lehen, Erbpacht und Privateigentum, wie sie sich auch in den Akten des Gutsarchivs Angern zeigt: Dort erscheinen Kossaten und Laßgutsbesitzer als formal abhängige Untertanen, zugleich aber mit geregelten Zahlungsverpflichtungen, festen Hofstellen und erkennbaren Besitzansprüchen.
Diese ambivalente Zwischenphase war typisch für die Übergangszeit: Das Lehnswesen wurde nicht abgeschafft, sondern funktional transformiert, indem es rechtlich rationalisiert und ökonomisch angeglichen wurde – eine Entwicklung, die sich erst mit den Reformen des 19. Jahrhunderts vollständig in bürgerliches Eigentumsrecht überführen ließ. Friedrich der Große legte somit die Verwaltungsgrundlage für den späteren Bruch mit der Feudalordnung, ohne diese selbst noch politisch oder sozial vollständig zu vollziehen.
Rückblickend war Lehnswesen ein funktional erfolgreiches, aber zeitlich begrenztes System.
Vom Lehen zum Eigentum – Der Wandel von Herrschaft, Recht und sozialer Teilhabe
Ein Vergleich des historischen Lehnswesens mit heutigen Eigentums- und Gesellschaftsmodellen macht deutlich, wie stark sich Rechtsauffassung, soziale Teilhabe und Machtverteilung gewandelt haben. Während das Lehnswesen auf einem personengebundenen Herrschaftsverhältnis beruhte – Land wurde nicht frei besessen, sondern unter Bedingungen vom Lehnsherrn verliehen –, ist Grundbesitz heute in der Regel Privateigentum, das rechtlich abgesichert, veräußerlich und frei vererbbar ist. Die heutigen Systeme basieren auf dem Prinzip der Rechtsgleichheit, während das Lehnswesen strikt hierarchisch war und Besitzrechte fast ausschließlich über Herkunft und Stand definiert wurden. Kossaten und Erbpächter etwa waren im alten System dauerhaft von rechtlicher und wirtschaftlicher Autonomie ausgeschlossen; heute genießen selbst Mieter und Pächter umfangreiche Schutzrechte, etwa durch das BGB und sozialstaatliche Sicherungsmechanismen.
Auch die Gegenleistungspflicht hat sich grundlegend verändert: Wo früher Naturalabgaben und Frondienste an die persönliche Unterordnung geknüpft waren, stehen heute vertraglich definierte Leistungen in einem rechtlich symmetrischen Verhältnis. Ein moderner Pachtvertrag oder ein Arbeitsverhältnis unterliegt arbeits-, miet- oder zivilrechtlicher Kontrolle – nicht der Willkür eines Grundherrn.
In sozialer Hinsicht zielt das heutige Modell auf Chancengleichheit, Eigentumsgarantie und individuelle Freiheit. Der Übergang vom Lehnssystem zur modernen Eigentumsordnung markiert einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel – von persönlicher Bindung und hierarchischer Kontrolle hin zu vertraglich geregelter Verfügung, Rechtsstaatlichkeit und individueller Teilhabe. Maßnahmen wie die Bauernbefreiung im 19. Jahrhundert oder bestimmte Bodenrechtsreformen trugen in vielen Regionen zur rechtlichen Emanzipation der Landbevölkerung bei. Andere Formen der Bodenreform – insbesondere jene unter autoritären oder ideologischen Vorzeichen – führten dagegen teils zu neuen Formen staatlicher Kontrolle und sozialer Ungerechtigkeit und können nicht pauschal als gesellschaftliche Errungenschaft gewertet werden. Eine differenzierte Bewertung ist stets abhängig vom historischen und politischen Kontext.
Das Lehnswesen – Herrschaft durch Herkunft und Ausschluss
Die historische Bewertung des Lehnswesens verlangt eine bewusste Balance zwischen zeitgenössischem Verstehen und kritischer Reflexion aus heutiger Sicht. Im mittelalterlichen Kontext erfüllte das Lehnssystem eine zentrale ordnungspolitische Funktion: Es strukturierte Herrschaft in einer Welt ohne zentralisierte Bürokratie, organisierte Schutzverhältnisse, band militärische Ressourcen an den Adel und integrierte lokale Machtträger in das Gefüge landesherrlicher Autorität. Für Familien wie die von der Schulenburg bedeutete das Lehnssystem nicht nur die Sicherung von Land und Status, sondern auch politische Mitgestaltung, kulturelle Verantwortung und die Möglichkeit, religiöse wie soziale Stiftungen zu etablieren. Aus dieser Sicht war das Lehnswesen ein stabilisierendes, vielfach legitimiertes Ordnungsmodell, das auf den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Rechtsvorstellungen seiner Zeit beruhte.
Gleichzeitig offenbart die Rückschau mit heutigen Maßstäben die strukturellen Exklusionsmechanismen des Systems: Das Lehnsrecht bevorzugte eine kleine männliche Oberschicht, schloss Frauen weitgehend von der aktiven Besitznachfolge aus, reproduzierte über Jahrhunderte soziale Ungleichheit und verhinderte individuelle Mobilität. Die Masse der Bevölkerung – insbesondere Bauern, Knechte, Mägde und Unfreie – blieb rechtlich, ökonomisch und politisch marginalisiert. In dieser Perspektive erscheint das Lehnswesen als ein Instrument patriarchalischer Herrschaftssicherung und institutionalisierter Ungleichverteilung, das Besitz und Macht an Herkunft statt an Leistung band.
Eine moderne historische Analyse muss daher beide Perspektiven zugleich berücksichtigen: Sie erkennt die zeitgenössische Rationalität und Legitimität des Lehnswesens an, benennt aber auch dessen problematische Langzeitwirkungen im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe, Gleichberechtigung und Machtverteilung. Diese doppelte Perspektive ermöglicht es, historische Strukturen weder zu idealisieren noch anachronistisch zu moralisieren, sondern in ihrer historischen Funktion und ihren sozialen Folgen differenziert zu verstehen. So wird das Lehnswesen nicht nur als System vergangener Herrschaftspraxis sichtbar, sondern auch als Spiegel sich wandelnder Vorstellungen von Ordnung, Gerechtigkeit und Macht in der europäischen Geschichte.
Fazit: Lehnsstruktur zwischen Herrschaftsmodell und historischer Übergangsform
Am Beispiel des Guts Angern zeigt sich das Lehnswesen als tragende Struktur adliger Herrschaft im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit – jedoch auch als zunehmend dysfunktionale Ordnung mit inneren Widersprüchen. Während die formale Einheit durch Gesamtbelehnungen gewahrt blieb, zerfiel der Besitz durch agnatische Erbfolge und reale Nutzungsteilung in kleinteilige, schwer verwaltbare Komplexe. Die Herrschaftspraxis über Untertanen – dokumentiert etwa in Dorfartikeln, Abgabenregistern und Lehnbriefen – blieb bis ins 18. Jahrhundert durch asymmetrische Abhängigkeitsverhältnisse, Abgabepflichten und Genehmigungsvorbehalte geprägt, die funktional an feudale Strukturen erinnerten.
Gleichzeitig zeigt die preußische Reformpolitik unter Friedrich II. erste Zeichen einer funktionalen Transformation des Lehnsrechts hin zu rationalisiertem Eigentum und kodifizierter Verwaltung. Die Eigentumsfrage wurde zur Trennlinie zwischen vormodernem Herrschaftsanspruch und bürgerlicher Rechtsordnung. Insofern steht das Lehnswesen historisch für eine Übergangsform: Es stabilisierte lange Zeit politische, wirtschaftliche und genealogische Ordnung, wurde aber schließlich – durch seine eigene innere Erstarrung – zum Hindernis gesellschaftlicher Teilhabe und wirtschaftlicher Modernisierung.
Die kritische Rückschau offenbart daher ein doppeltes Erbe: Das Lehnswesen war einerseits ein strukturierendes Erfolgsmodell adliger Machtentfaltung, andererseits ein System struktureller Exklusion. Seine Überwindung war Voraussetzung für Rechtsgleichheit, Eigentumssicherheit und die Entstehung moderner Gesellschaften – und gerade deshalb ist seine differenzierte historische Analyse bis heute lehrreich.
Quelle
- Graf von der Schulenburg, Dietrich Werner / Wätjen, Hans: Geschichte des Geschlechts von der Schulenburg (1237–1983), Wolfsburg: Selbstverlag, 1984, Seite 88f